© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Ernst Jünger: Wie der Bildhauer Serge Mangin den Blick das Anarchen in Bronze bannte
"Ich darf ihn nicht enttäuschen"
von Serge Mangin

Es war relativ einfach, sich mit Ernst Jünger für ein erstes Treffen zu verabreden. Anders verhielt es sich mit der Arbeit selbst: Für ein Unternehmen mit derart unsicherem Ausgang Modell zu stehen, fehlte Jünger jede Lust, er schien darüber geradezu verärgert.

Aber auch von meiner Seite gab es dem Schriftsteller gegenüber einige ernsthafte Vorbehalte, die allerdings ganz anderer Natur waren. Vor allem verübelte ich ihm seine Begeisterung für den Krieg von 1914. Wie anders hatten da Céline und viele andere reagiert, für die der Erste Weltkrieg eine einzige ungeheure Bauernfängerei gewesen war, die verbrecherischste der gesamten Menschheitsgeschichte – ein europäischer Bürgerkrieg, der zwangsläufig zum Untergang Europas führen mußte. Inmitten pfeifender preußischer Gewehrkugeln bemerkt Céline: "Soweit ich zurückdenken kann, habe ich den Deutschen nie etwas zuleide getan, und ich frage mich, wie lange dieses furchtbare Mißverständnis noch andauern wird!"

Besonders entrüstete mich, daß Jünger bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, nunmehr im reifen Alter von 45 Jahren und Familienvater, anscheinend nichts dazugelernt hatte und voller Neugierde erneut Front gegen Frankreich machte. (…)

An einem strahlenden Sommertag, dem 2. Juli 1990, erreichte ich den herrlichen Münchener Garten seines Neffen, bei dem das Ehepaar Jünger einige Urlaubstage verbringen wollte. Meine Freunde, der Neffe und seine Gattin, und ich hatten einige Tage zuvor bereits mein Arbeitspodest und ein Gerüst mit einigen Handvoll Ton nahe des Schwimmbeckens aufgebaut, wo mir die Lichtverhältnisse am besten erschienen.

Ich wurde in ein lichtdurchflutetes Arbeitszimmer geführt. Dort saß Ernst Jünger in Anzug und Krawatte an einem Schreibtisch und arbeitete. Zu seinen Füßen schien ein Hund zu liegen, was mich sehr erstaunte, verabscheute Jünger Hunde doch für gewöhnlich (die ihn durch den Stellungskrieg von 1915 begleitende Deutsche Schäferhündin allerdings hat er auf sehr eindrucksvolle Weise geschildert). Der Hund zu seinen Füßen war aber nur eine Nachbildung aus Plüsch.

Einige Sekunden lang hatte ich Gelegenheit, die würdige Ausstrahlung zu beobachten, die Ernst Jünger besitzt, wenn er sich, die Feder in der Hand, ganz auf einen Text konzentriert. Dann erhob er sich kraftvoll, stand in tadelloser Haltung vor mir und schenkte mir ein freundliches Lächeln, das schnell eisig wurde: "Meine Frau hat Ihnen bereits gesagt, daß ich morgens nicht zur Verfügung stehe?"

"Ich werde versuchen, meine Arbeit schnellstmöglich fertigzustellen, Maître!

"Das wäre mir sehr angenehm!"

Der Erste Weltkrieg war kein Gesprächsthema

Übrigens war ich auf die stets wiederkehrende Frage vorbereitet: "War General Mangin Ihr Urgroßvater?", womit der traurig berühmte Sieger von Verdun gemeint ist. Aber die Frage blieb aus. Ebenso war es ein Irrtum zu glauben, wir würden viel über diesen Ersten Weltkrieg sprechen. Für ihn mußte dieser verlorene Krieg mit seinen großen Schmerzen in der Versenkung begraben bleiben. Statt der aktiven Erinnerung stellte sich eine Art latente Melancholie ein. Auf jeden Fall blieben alle meine Versuche vergebens, ihm Erinnerungen oder Anekdoten über diese furchtbare Metzelei zu entlocken. Außer der Bemerkung: "Die Leute glaubten immer, der Krieg bestünde aus Kämpfen. Aber im Krieg geht es vor allem darum, bei Kälte, Regen und mit leerem Magen zu warten. Dieser Krieg war, wie alle anderen, primär ein langer Stellungskrieg, in dem die ebenso kurzen wie heftigen Kämpfe nur einen kleinen Teil unserer Zeit während der vier Frontjahre ausmachten."

In meinem Tagebuch findet sich unter dem 2. Juli 1990 folgende Eintragung: "Habe mit E. Jüngers Porträt begonnen. Ein Mann voll unglaublicher Lebenskraft. Zum Lesen benötigt er keine Brille, sein Blick ist zugleich voller Großzügigkeit und von durchdringender Härte, er hat ein angenehmes Lachen, hält sich wie ein Vierzigjähriger. Sein Körper ist braungebrannt, er hat volles Haar, hört ausgezeichnet, schreibt und macht sich Notizen. Und er ist 95! Auf diesem Stand meiner ersten Beobachtungen zähle ich Jünger zum Typus des Überlebenden, der von zwei Antriebskräften beherrscht wird: tiefe Liebe für das Leben auf der einen Seite und ungeheurer Egoismus auf der anderen: Daraus erklärt sich diese Dualität von Großzügigkeit und Härte.

Zu Beginn der Arbeit empfand ich Angst. Jünger tat nichts, um mir zu helfen, saß da und las. Aus Angst, ihn zu stören, war ich gezwungen, in großer Distanz zu ihm zu arbeiten. Nach und nach aber näherten wir uns. Er erhob sich, und ich konnte mich frei um ihn herum bewegen. Für eine erste Sitzung bin ich recht zufrieden."

"3. Juli 1990

Mit dem Porträt von E. Jünger geht es schnell voran. Er besitzt das schönste Männergesicht, das ich je gesehen habe! Und sein Lächeln ist nicht das eines Greises, sondern das eines Mannes, der zu gefallen weiß. Von einer Sekunde zur anderen wechselt sein Gesichtsausdruck von größter Freude zu abgrundtiefer Melancholie, doch ohne daß dieser Wechsel brüsk erscheinen würde. Es ist mehr wie ein sanftes Gleiten. Dabei fällt mir plötzlich der Tod seines Sohnes ein, der in Italien durch einen Schuß mitten durch die Stirn getötet wurde. Er starb auf die gleiche Weise, wie er selbst einmal einen Engländer getötet hatte, dessen von der Kugel durchlöcherten Helm er aufbewahrt hat. Mit der Erinnerung daran erkläre ich mir einen Teil der latenten Traurigkeit Jüngers. Sieht er im Tod seines Sohnes vielleicht eine Form ausgleichender Gerechtigkeit?

Als ich ihm erzählte, daß sein Gesicht für mich, ähnlich wie die Gesichter Adenauers und Henry Millers, einen asiatischen Einschlag hätte, meinte er seine klassische Herkunft unterstreichen zu müssen. Adenauer hingegen hätte tatsächlich mongolisches Blut in seinen Adern gehabt … Ich denke, daß dieser asiatische Ausdruck durch sein hohes Alter zu erklären ist – die zahlreichen senkrechten Falten auf Lippen und Nase, die stechenden Augen. Es ist das Gesicht eines alten Sioux-Häuptlings.

Jünger stellt bedauernd fest, daß auf dem Margeritenstrauß, der in unserer Nähe steht, keine Insekten zu sehen sind. Noch vor dreißig Jahren hätte es von Insekten nur so gewimmelt, heute dagegen gäbe es kaum noch welche … Dies ruft mir die Worte meines, im Alter von 71 Jahren leider viel zu früh verstorbenen Lehrers Rückel ins Gedächtnis. Er erzählte mir von der paradiesischen Natur der deutschen Landschaft vor dem Zweiten Weltkrieg, wie er sie auf seinen zahlreichen Fahrradtouren kennengelernt hatte. ‘Heutzutage dominieren im Frühling doch nur noch zwei Farben: Gelb und ein wenig Grün!’ (…)

Célines ‘Reise ans Ende der Nacht’ hat Jünger fasziniert. Seine frühere Abneigung ihm gegenüber erscheint Jünger nun übertrieben. Célines fanatische antijüdische Haltung während der Zeit der Okkupation hatte ihm immer äußerst mißfallen: ‘In der Stunde des Unglücks hätte man ihnen beistehen müssen!’ (…)

Ich gestehe ihm, daß ich zuviel Bier trinke, und er antwortet erheitert: ‘Mit Bier kann man sich nicht betrinken.’ Er leert fast eine Flasche Wein pro Tag."

Erinnerung an einigeÜberlegungen Jüngers

"4. Juli 1990

Einige Worte Jüngers, an die ich mich gut erinnere:

– Die Atomenergie ist gefährlich, aber es gibt nichts, was ungefährlich wäre. Die Zeit der Kohle aber ist vorbei.

– Wie Nietzsche es formulierte, sei der Mensch derart destruktiv, daß dieser unser Planet nicht viel verlöre, verschwände er von der Erdoberfläche. Für Jünger drückt diese Meinung nichts Nihilistisches aus, sondern ist eine völlig selbstverständliche Feststellung.

– Es sei ihm nie gelungen, beim Rauchen zu inhalieren, was er sehr bedauert! Während des Ersten Weltkriegs hätte er sehr viel Pfeife geraucht, im Zweiten nicht. Er möchte wieder damit anfangen und diesmal versuchen, den Rauch zu inhalieren! Diese Überlegenheit des Gesunden schien mir für Jünger typisch zu sein, man hat fast den Eindruck, daß er an die Krankheit nicht glaubt. Diese Überlegung erscheint mir wirklich komisch.

– Jeden Morgen nähme er ein eiskaltes Bad. Im Winter, bei einer Wassertemperatur von 4°C, bliebe er nicht lange drin, ab 12°C Wassertemperatur mehrere Minuten. Hier schwimmt er jeden Nachmittag. Er scheint steif und fest an dieses Mittel zu glauben. Zum ersten Mal erscheint er mir naiv.

Wir haben von einem Treffen auf Kreta gesprochen und dies fest vereinbart. Er fragte mich, ob es Schlangen und Insekten in meinem Garten gäbe. Hätte ich diese Frage verneint, wären die Chancen für einen Besuch seinerseits sicher auf Null gesunken. Er scheint sich an einige Obsessionen dieser Art zu halten: eine einfache und kindliche Vorgehensweise.

Allmählich wird er immer freundlicher. Er erhebt sich auf meine Bitten hin, ohne zu zögern, und lächelt. ‘Gut! Gut!’ Meine Arbeit beobachtet er mit ständig wachsender Aufmerksamkeit. Ich sage ihm, daß er einen sanften und direkten Blick hat. Daraufhin erzählt er mir von einem anderen Franzosen, der seinen Blick auch als sanft und unerbittlich‹ beschrieben hatte. Sein Blick ist der eines alten Löwen, der eine Sekunde lang seine Umgebung in Angst und Schrecken versetzt und dann sogleich beruhigend um sich blickt.

Er hat grau-blau-grüne, wässrige Augen.

Er kannte Erhart Kästner gut. Die Dekadenz unserer Zeit habe Kästner auch melancholisch gestimmt. Es ist mir unmöglich zu sagen, ob es sich bei Jünger ebenso verhält. Zu diesem Zeitpunkt bleibt dies bei ihm ein Geheimnis.

Er fragte mich, warum ich keinen Zirkel verwenden würde. Ich antwortete ihm, daß optische Täuschungen eine Notwendigkeit seien. Auch im Parthenon wären die Linien gekrümmt, um gerade zu erscheinen.

‘Gut! Gut!’

Seine Frau und seine Nichte machten es sich im Sessel gemütlich, um mir beim Arbeiten zuzusehen, nachdem sie gefragt hatten, ob sie mich stören würden! Wie zwei kleine Mädchen saßen sie ganz brav da, still, die Hände auf den Knien. Ich war sehr bewegt und antwortete, ihre Gegenwart wäre mir angenehm."

"6. Juli 1990

Die Arbeit an dem Porträt Jüngers wird zu einem wichtigen Erlebnis für mich. Es entwickelt sich zwischen uns eine Form der Freundschaft. Er ist einen Tag länger in München geblieben, damit ich das Porträt beenden kann, was mir sehr schmeichelt. Es erstaunt mich, welche Selbstbeherrschung notwendig ist, um das Porträt eines solchen Mannes beenden (und beginnen!) zu können. Beobachtungsgabe und Modellierkunst allein reichen nicht aus. Ein Bildhauer, der sich vor seinem Modell fürchtet, büßt alle seine Fähigkeiten ein…

Bei einem Vergleich der Filme aus den dreißiger Jahren mit denen der letzten Dekade machten Jünger und ich die gleiche Feststellung: Die Stimmen und Gesichter waren vor einem halben Jahrhundert weitaus markanter, von den Porträts des Photographen Nadar vor hundert Jahren ganz zu schweigen. Bei den Gesichtern zeitgenössischer Politiker verhalte es sich ebenso, sagte ich ihm, Gesichter wie aus Amerika, runde Mondgesichter, fügte ich hinzu, wohlgenährt, aber bei dem kleinsten Stoß würden sie aus dem Gleichgewicht geraten. Er lachte von ganzem Herzen, sagte aber nichts.

Morgen ist die letzte Sitzung. Ich darf weder ihn noch seine Familie enttäuschen.

Bei der intensiven Lektüre von ‘Siebzig verweht’ entdeckte ich den Geist der ‘Strahlungen’ wieder, welche in keinster Weise, wie ich ursprünglich angenommen hatte, einer spirituellen Herzlosigkeit entspringen, sondern einer bewegenden Ferne, in der allein ich heute das Herz ihres Verfassers schlagen höre.

Ich erwähnte ihm gegenüber die von ihm wiedergegebene grauenhafte Geschichte von dem griechischen Helden, den die Türken vor einem Spiegel bei lebendigem Leibe häuteten. Ich gestand ihm, daß ich mich seither noch nicht einmal mehr zum Zahnarzt trauen würde. Er meinte, das sei Unrecht, gab aber zu, daß ihn diese Erzählung gleichfalls erschüttert hätte. Er insistierte auf der Grausamkeit der Türken. Sein Geständnis erschien mir sehr bedeutsam: erschüttert!"

Jünger zeigte offen Freude und Zustimmung

"8. Juli 1990

Habe das Porträt von Ernst Jünger vollendet. Während der ganzen Sitzung hat er die Büste nicht aus den Augen gelassen und sich kein einziges Mal hingesetzt. Mir gefällt seine Art, Freude und Zustimmung offen zu zeigen, offen wie seine Verärgerung zu Beginn. Lob von ihm und seiner Familie. Ich gestand ihm meine anfängliche Furcht. Er antwortete mir mit einer Anekdote, die ich leider vergessen habe. Sinngemäß: Ohne Furcht kann nichts Gutes entstehen." (…)

"Wilflingen, 12. Januar 1991

Ein unvergeßlicher Besuch bei Ernst Jünger und seiner Frau! Er schüttelte mir die Hand und ergriff meine Hände. Bei einer Flasche Champagner viel gelacht und angeregt diskutiert. Unser Lieblingsthema war die Bedeutung der Sinne, er favorisierte den Gesichts-, ich den Geruchssinn, dann gingen wir zu Schlangen und Atomen über! … Ich hoffe, es ist mir mit diesem Porträt gelungen, einen Denker auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung darzustellen. Ich hatte das Glück, gerade in dem Augenblick einen Blick auf dieses Leben werfen zu dürfen, als es sich zu voller Pracht entfaltet hatte …"


 
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