© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Schule ist konservativ
von Josef Kraus

Nach 1989 wurde – wieder einmal – die Frage "What’s right, what’s left?" diskutiert. Auf wissenschaftlicher Ebene hat die Diskussion zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Zu sehr hätten – so wurde resümiert – beide Richtungen Schnittmengen. Dennoch fällt es der Bevölkerung nicht schwer, sich selbst links oder rechts zu lokalisieren. "Die Befragten", schreibt Elisabeth Noelle-Neumann 1995, "haben damit keine Mühe; mehr als 90 Prozent ordnen sich auf dem politischen Spektrum ein."

"Links" wird nach Noelle-Neumann assoziiert mit: Gleichheit, antiautoritär, Nähe, Wärme, Formlosigkeit im Umgang, der Anrede "du", mit Spontaneität, Sicherheit, Verantwortung des Staates, Planung, Prägung durch das Milieu, Verantwortung der Gesellschaft für das Befinden des einzelnen, Internationalismus, Kosmopolitismus.

"Rechts" wird assoziiert mit: Unterschieden individueller, sozialer und nationaler Art, Autorität, Hierarchie, förmlichen Umgangsformen, Anrede "Sie", Disziplin, Freiheit von staatlichem Zugriff, Risikobereitschaft, Anstrengung, Schutz der Privatsphäre, Wettbewerb, Privateigentum, Verantwortung des Individuums, dem Nationalen.

Links will als reformerisch und fortschrittlich (im Sozialen, aber nicht mehr im Technischen) gelten. Links hat einen Traum, glaubt an die Perfektibilität des Menschen und liefert Glücksversprechen. Links führt Schwächen des Menschen auf Zivilisation und Milieu zurück. Links heißt, Verantwortung für Fehlentwicklungen dem System zuzuweisen. Links heißt, sich unwohl zu fühlen ob der Umstände. Links fragt nach der "Freiheit wovon?".

Für Rechts hat das Gewachsene Priorität. Rechts will Reform als behutsame Anpassung. Rechts versteht sich nicht als struktur-, sondern als wertkonservativ. Rechts sieht die Conditio humana, dementsprechend den Menschen als unvollkommen und – im christlichen Sinne – als gefährdet. Rechts hat keinen Traum und kein Glücksversprechen. Rechts sieht die Verantwortung für Fehlentwicklungen bei jedem einzelnen. "Rechts" heißt, zufrieden zu sein trotz der Umstände. Rechts fragt nach der "Freiheit wozu?".

Es läßt sich daraus – vergröbert – eine linke und eine rechte pädagogische Anthropologie ableiten. Linke pädagogische Anthropologie heißt, beginnend mit Rousseau und fortgeführt bis hin zu den Behavioristen und zur Frankfurter Schule: Der Mensch muß von den "verkrüppelnden" (Adorno) Umständen befreit und anderen anvertraut werden. Absolute Gerechtigkeit ist möglich, wenn die Umstände entsprechend gestaltet werden. Der Mensch ist von Haus aus gut und zu allen Leistungen fähig. Heranwachsende erfahren Freiheit durch Gleichheit. Alle Bildungsinhalte sind gleichberechtigt.

Rechte pädagogische Anthropologie besagt – das christliche Menschenbild sowie Burke, Tocqueville und Gehlen aufgreifend: Der Mensch ist ein "Mängelwesen" (Gehlen), deshalb bedarf er – auch zum Schutz vor sich selbst – der Ordnung der überlieferten Institutionen und eines "framework of human life" (Burke). Menschen sind unterschiedlich; absolute Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit ist nicht möglich. Der Mensch ist nur begrenzt erziehbar. Junge Menschen erfahren Freiheit durch individuelle Verantwortung, Anstrengung und Entfaltung der je eigenen Begabung. Bildungsinhalte sind nicht beliebig, sondern es geht um die "großen Gegenstände".

Rechte pädagogische Anthropologie ist damit weniger attraktiv, weil sie anstrengender ist und weil sie keinen Traum bereit hat. In der Folge leiten sich aus linkem und aus rechtem Verständnis viele Unterschiede in den Vorstellungen von schulischen Zielen, Strukturen und Inhalten ab. Die im voraufgehenden Schema skizzierten 18 Differenzpunkte sind – relativ – eindeutig als linke oder als rechte Schulpolitik identifizierbar. Mischformen in der Realpolitik ergeben sich aus einem so oder so modifizierten Verständnis der Verantwortungsträger oder aus den jeweils formierten Koalitionen.

Halten sich die Parteien noch an dieses Schema? Kaum! Ihr realpolitisches Handeln und ihre bildungspolitischen Programme sind weitgehend austauschbar. Die Titel lesen sich entsprechend: "Für eine liberale Bildungsoffensive" (FDP-Parteitag, Mai 1997), "Verantwortung für Deutschland – Das 21. Jahrhundert menschlich gestalten – Wissen für die Zukunft" (CDU-Parteitag, Oktober 1997), "Bildung für die Zukunft – Bildung in einer lernfähigen und lernenden Gesellschaft" (SPD-Parteitag, Dezember 1997). Es wimmelt darin nur so von komparativen "Immer"-Perseverationen und anderem mehr: von der "immer komplexeren Welt", von der "immer komplexer werdenden Wissensgesellschaft", von der "besseren Bildung"; ferner: vom "Zeitalter der Globalisierung", vom "tiefgreifenden Wandlungsprozeß", von der "Vorbereitung auf das 21. Jahrhundert", natürlich immer und immer wieder von "Kreativität", "Innovation", "Partizipation", "Wettbewerb", "Lernkultur", vom "Lernen für das Leben" und davon, daß man "Schule und Hochschule neu denken und gestalten" wolle. Das halbwegs Interessante findet man erst, wenn man die in solchen Programmschriften offenbar obligatorischen "Welt-im-Wandel"-Prologe nebst programmatischen Sättigungsbeilagen hinter sich gelassen hat.

Die SPD plädiert – dies sei ein "unverrückbares Ziel" – für "Chancengleichheit". Das bedeutet für die SPD: "Die Politik der Öffnung beim Hochschulzugang muß fortgeführt werden." Das gegliederte Schulsystem wird für "dysfunktional" erklärt, dafür solle – wieder einmal – das Konzept der Gesamtschulen weiterentwickelt werden. Ansonsten hat sich die SPD die autonome Schule auf die Fahne geschrieben; sie tritt ein für eine "autonome Mittelbewirtschaftung" und für eine Schulreform "von unten". Der Grundschule wird eine reformerische Pilotfunktion zugewiesen: Grundschulen seien die "Zentren pädagogischer Reformen"; ihre Arbeit strahle in die weiterführenden Schulen aus. Das kann man wohl sagen! Dann freilich wartet die SPD mit einer Überraschung auf: "Zugleich wollen wir es ermöglichen, daß junge Menschen, die dies wollen und können, ihren Schulabschluß, z. B. das Abitur, zu einem früheren Zeitpunkt als allgemein vorgesehen, erreichen können."

Die Bündnis-Grünen bieten ebenfalls Vertrautes. Man könnte über ihr Papier "Spiel und Spaß" schreiben, denn darin finden sich die Forderungen nach einem Verzicht auf Noten bis einschließlich 8. Jahrgangsstufe, nach Einführung alternativer Unterrichtsmethoden, nach Abschaffung des 45-Minuten-Taktes usw. Lehrer sollen – als Angestellte – zu zwei Dritteln Unterrichtende, Beratende und Entwickler eines Schulprogramms sein, zu einem anderen Drittel Moderatoren. Über allem schwebt die Autonomie. Darüber hinaus vermitteln Grüne den Eindruck, als wollten sie den Aufenthalt junger Leute in Bildungseinrichtungen als Dauerzustand. In einem Flugblatt der Fraktion der Grünen im Landtag von Rheinland-Pfalz vom Februar 1998 heißt es unter dem Titel "Zukunftsfähige und nachhaltige Bildungspolitik": "Je mehr Lebenszeit im Bildungssystem, in der Schule, in der Hochschule, in Fort- und Weiterbildung verbracht wird, um so kürzer ist die Lebenszeit im Beschäftigungssystem. So kommt es zu einer strukturellen Entlastung des Arbeitsmarktes." Eine wahrhaft nachhaltige Politik!

Voll pluralistisch gibt sich die FDP. Herausgekommen sind dabei eine Art Zweieinhalbgliedrigkeit des Schulsystems und ein zweidrittelherziges Plädoyer für gegliedertes Schulwesen. Konkret heißt das: eigenständige Hauptschule oder auch integrierte Haupt-/Realschule. Wo es von Eltern gewünscht wird, darf es auch ein bißchen Gesamtschule sein. In Sachen Autonomie ist man im Zuge der Forderung nach schulischer "Profilbildung" ebenfalls mit von der Partie. Im übrigen will man nur zwölf Jahre bis zum Abitur und eine rechtzeitige Notengebung ab Jahrgangsstufe 3.

Die CDU tritt ein für mehr Begabtenförderung, für eine Stärkung des Erziehungsauftrages der Schulen, für mehr Respekt der Schüler gegenüber den Lehrkräften und – relativ ungewöhnlich für die CDU – für ein größeres Angebot an Ganztagsschulen. Altbekannte Forderungen dürfen nicht fehlen: die Einschulung mit fünf Jahren, die Kürzung der gymnasialen Schulzeit um ein Jahr auf bundesweit zwölf Jahre, die Kappung des zweiten Berufsschultages oder die Anbindung aller Schulen bis zum Jahr 2000 ans Internet. Daß sich im November 1997 CDU-Landes- und Bezirksverbände – zum Beispiel Berlin und Nord-Württemberg – schon auch mal für die Einführung einer Schuluniform einsetzen, soll nicht näher untersucht werden.

Von mehr Geld für Bildung reden übrigens alle. Auffällig ist hier, daß die einzelne Partei die Mehraufwendungen gerade immer von derjenigen Regierung verlangt, an der sie nicht beteiligt ist. Die FDP tut sich da am leichtesten: Sie ist in nur einem Bundesland, in Rheinland-Pfalz, im Landeskabinett. Da kann man besonders gut nach mehr Ausgaben für Bildung rufen.

Wie auch immer: Die Programme reißen nicht von den Sitzen. Bildungsoffensiven startet man damit nicht. Viel eher erscheinen diese Programme als Pflichtübungen. Passagenweise erscheinen sie als austauschbar. Ob dies ein Symptom einer Christdemokratisierung oder einer Sozialdemokratisierung oder einer Liberalisierung oder einer Graswurzel-Atomisierung aller Bildungspolitik ist?

Programmatisch ist die Union die ehrlichste Partei, weil sie am wenigsten falsche Hoffnungen weckt. Das CDU-Programm von 1998 macht immerhin deutlich, daß ohne Anstrengung und Leistung nichts geht. Aber ist die Union auch sonst ehrlich und standhaft? Liegt ihr die Bildungspolitik wirklich am Herzen? Es gibt Anzeichen dafür, daß beides nicht der Fall ist. Eine Unionspolitik wie im Saarland mit ihrer Zustimmung zur Abschaffung der Hauptschule (Kurt Reumann schreibt dazu: "Die CDU ist ebenfalls gestrandet: Sie hat überhaupt keine Linie mehr." oder eine Unionspolitik wie in den großen Koalitionen in Berlin, Bremen oder Mecklenburg-Vorpommern mit ihrem jeweiligen Verzicht auf das Amt des Schulministers (alles geschehen in den Jahren 1994 bis 1996) und damit verbunden ein großer Schulpazifismus mit einer Zementierung der SPD-Schulpolitik in Bremen nähren die Vermutung, daß Schulpolitik zumindest für die CDU nachrangig werden könnte. Außerdem ist die Union die schulpolitisch vermutlich liberalste und toleranteste Partei. Anstatt die Kultusministerkonferenz (KMK) einmal exemplarisch – etwa am Beispiel Abitur – platzen zu lassen, duldet die Union so ziemlich alles, was die KMK mit ihrer SPD-Mehrheit anpackt.

Steht wenigstens die CSU noch senkrecht? Ja, mit kleinen Einschränkungen. Sie bleibt die Partei, die am geradlinigsten und am standhaftesten ihre Schulpolitik verficht und umsetzt. Diese Schulpolitik ist nach wie vor Leitbild für viele Bürger und Politiker – nicht nur CDU-nahe – in den anderen Bundesländern. Zu staunen aber beginnt der mit Bildungspolitik Vertraute ob so mancher im Winter 1997/98 getaner Verneigung der CSU vor schulpädagogischem Zeitgeist. Da ist die Rede von offenen Unterrichtsmethoden, Handlungsorientierung, Methodenkompetenz, Lebensraum Schule, Modularisierung, Selbstevaluation, Einbeziehung von Phänomenen und Problemen aus dem schulischen Umfeld, Flexibilisierung der Stundentafeln usw.

Meint man etwa in der Union, das gegliederte Schulsystem habe ein für allemal gesiegt und damit auch die schulpolitische Position der Union? Es gibt keinen Grund für die Union, sich zurückzulehnen oder gar auf die gefällige Taktik einer Erleichterungspädagogik zu schielen. Der Sieg des gegliederten Schulwesens hätte sich dann nicht gelohnt, zumal dann nicht, wenn das gegliederte Schulwesen nun anträte, Pädagogik und Unterrichtsmethodik der Gesamtschule zu übernehmen.

Woran es der Union mangelt, ist klar. Während sich ganze Universitätsinstitute und nicht wenige Kommissionen wie die PR-Agenturen oder gar Ghostwriter-Teams rot-grüner Schulpolitik gerieren, fehlt der Union dieser Background. Rüttgers findet nicht zu Höhenflügen, und mag er sich noch so sehr in einer Mischung aus Abgeklärtheit und apokalyptischem Hauch in Szene setzen: "Im Land der Dichter und Denker werden pro Jahr 30.000 Schulabgänger entlassen, die nicht richtig schreiben und lesen können", sagt er gern. Das ist nur Rhetorik – und die ist schief! Warum sagt ihm denn keiner, daß diese 30.000 drei Prozent eines kompletten Entlassungsjahrganges sind und daß es zur Zeit der Dichter und Denker 97 Prozent waren, die nicht lesen und schreiben konnten? Mit solchen "Argumenten" jedenfalls ist keine Schulpolitik zu machen. Und sie ist auch nicht zu machen mit technizistischen Vorstellungen: Hier ein wenig früher einschulen, dort ein wenig früher mit der Schule aufhören und alle Schulen ins Internet. Das ist zuwenig an Wünschen für eine Partei, die sich auf ihr christlich-abendländisches Menschenbild beruft.


 
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