© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Vergangenheitsbewältigung: Der 42. Deutsche Historikertag
Die Richter und ihre Väter
von Hans B. von Sothen

Die als Aufklärung verkleidete "historische Aufarbeitung" ist in eine weitere wichtige Phase getreten: in die Aufarbeitung der Historie selbst. Der am vergangenen Wochenende beendete Frankfurter Historikertag schlug hohe Wellen und begann gleich mit einem Eklat: Der Mittelalterhistoriker Johannes Fried, derzeit Vorsitzender des Verbandes der Historiker Deutschlands (VHD), hielt ein Einführungsreferat, in dem er das Hauptdiskussionsthema öffentlichkeitswirksam vortrug.

Historiker hätten, so Fried, "jenen übersteigerten Nationalismus" legitimiert, "jene Feindschaft zur Demokratie, jenen radikalen Antimarxismus, jene Verherrlichung des Führerprinzips sowie der autoritären, totalen Staatsmacht und mit diesen Wertschätzungen jene katastrophalen geistigen Bedingungen, die tatsächlich, wenn auch nicht immer bewußt und gewollt dem Naziregime Wege geebnet haben". Schon das Einschmuggeln des "radikalen Antimarxismus" in diese Aufzählung hätte zu denken geben müssen. Aber auch Namen wurden genannt. Die der Historiker Percy Ernst Schramm, Hermann Heimpel, Johannes Haller, Hermann Aubin. Andere Konferenzteilnehmer wie Götz Aly haben diese Liste ergänzt um so erlauchte neuere Namen der Nachkriegs-Historiographie wie Werner Conze, Karl Dietrich Erdmann und Theodor Schieder. Zusammengenommen ergibt sich, wohl nicht ganz zufällig, eine fast lückenlose Liste der Vorgänger Frieds als Vorsitzende des VHD seit Anfang der 50er Jahre.

"Warum gerade jetzt … dieser Durst nach Aufklärung? Oder genauer: warum erst jetzt?" Diese Fragen Johannes Frieds an sich selbst und Teile seiner Zunft sind nur allzu berechtigt. Denn allein das Forschungsinteresse ist es offenbar nicht. Hatte noch Frieds Vorgänger als VHD-Vorsitzender, Lothar Gall, im vergangenen Jahr (wenn auch vergeblich) zu verhindern versucht, daß der Vorsitzende des Verbandes der Geschichtslehrer, Rolf Ballof, den Kongreß durch eine Aufzwingung der Goldhagen-Debatte instrumentalisierte, so war in diesem Jahr eine Fortsetzung, eine Variation des Themas angesagt. Und zwar eine, die die Disputanten im hellsten moralischen Licht erscheinen ließe.

Daß aber die bisherige Historiographie über dieses Thema geschwiegen hätte, ist nicht wahr. In den letzten Jahren ist eine große Anzahl zum Teil recht ausführlicher Untersuchungen zum Thema Universität und Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus erschienen.

Nun sollen keineswegs etwaige Verfehlungen verschwiegen werden, und auch wissenschaftliche Verbindungslinien sollten aufgezeigt werden, soweit dies etwa für die Beurteilung der geistesgeschichtlichen Grundlagen der heutigen "neue Sozialgeschichte" wichtig ist. Doch scheint hier kein wissenschaftliche Erkenntnisinteresse zugrundezuliegen, sondern der Verdacht drängt sich auf, daß in diesem Fall etwas instrumentalisiert werden soll.

Der nachwachsenden Historikergeneration scheint die einfache Wahrheit, auf die der amerikanische Historiker Jerry Z. Muller aufmerksam gemacht hat, verloren gegangen zu sein, daß nämlich alle Texte, die während der nationalsozialistischen Diktatur geschrieben worden sind, wie Palimpseste zu lesen seien; das heißt wie verschlüsselte Texte, deren Botschaft zwischen den Zeilen zu lesen ist. Daher der selbstgerechte Ton der Herren Aly, Schulze, Fried e tutti quanti; daher die moralische Überheblichkeit.

Immerhin hat sich der Historiker Reinhart Koselleck vor seinen Lehrer Conze gestellt. Wenn jemand wie Conze, nach dem Krieg Gründer des Arbeitskreises "Moderne Sozialgeschichte", seine Wiener Habilitationsschrift im Jahre 1940 vorgelegt und dennoch die in der damaligen Zeit üblichen verbalen Verbeugungen vor dem Nationalsozialismus unterlassen habe, dann, so Koselleck, müsse man dies ebenfalls zur Kenntnis nehmen. Auch der "Vatermord" an Theodor Schieder, langjähriger Herausgeber der Historischen Zeitschrift und in den kritischen Jahren 1967 bis 1972 Vorsitzender des VHD, ist wohl der späte Dank dafür, daß der eher konservative Schieder fast nur linke Schüler förderte, konservative dagegen nicht nachzog.

Nochmals die Frage Frieds: Warum erst jetzt? Denn mutig ist das alles nicht: Schieder starb 1984, Conze 1986, Heimpel 1988, Erdmann 1990. Keiner von denen, über die jetzt so hochgemut zu Gericht gesessen wird, kann sich mehr wehren. Und wenn einige der Schüler Schieders und Conzes jetzt behaupten, keiner von ihnen habe die Vergangenheit der eigenen Lehrer gekannt (Die Welt 27.8.98), dann waren sie entweder weltfremd oder aber feige. Das ganze Schauspiel ist jedenfalls wenig eindrucksvoll.

Die Überraschung von Winfried Schulze etwa, ebenfalls einer der Ankläger, der bereits 1989 für ein Beiheft zur Historischen Zeitschrift die wichtigsten Nachlässe der angeklagten Historiker – auch die in Privatbesitz befindlichen – ausgewertet hat, wird sich wohl in Grenzen gehalten haben. Wollte man vielleicht keine Diskussion über das "Schwarzbuch des Kommunismus"? Wollte man eine Aufarbeitung des kommunistischen Einflusses auf die bundesrepublikanische Zivilgesellschaft, wie sie für Frankreich seit zehn Jahren etwa durch Annie Kriegel in die Wege geleitet worden ist, verhindern? Will man – der verräterische Antikommunismus-Vorwurf Frieds spricht dafür – die deutsche Zeitgeschichtsforschung unter ein neues Antifa-Paradigma stellen?

Der Opportunismus und Karrierismus, den manche der heutigen Historiker den in der Diktatur lebenden "Vätern" zum Vorwurf machen, scheint ihnen selbst nicht ganz fremd zu sein. "Schuldige Väter, milde Söhne, strenge Enkel". So persifliert die Berliner Zeitung nicht ganz zu Unrecht dieses etwas merkwürdige Schauspiel. Vielleicht waren die milden Söhne sich eher der Tatsache bewußt, wie sehr man während eines exponierten Lebens Schuld auf sich laden kann, die später durch nichts wieder gutzumachen ist. Sie kannten noch die Bibel: "Wer von euch ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein."


 
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