© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Kolumne
Absurditäten
von Klaus Motschmann

Der gegenwärtige Wahlkampf bietet wieder einmal vielfältigen Anlaß, über einige grundsätzliche Probleme der politischen Massenkommunikation nachzudenken. Dazu gehört das Argument, kleine Parteien hätten keine Chance, die Fünf-Prozent-Klausel zu überspringen, so daß die für sie abgegebenen Stimmen verloren seien. Die Demoskopen vermitteln diesen Eindruck, indem sie wochenlang diese Parteien unter dem Rubrum "Sonstige" zusammenfassen. Obwohl die Wahlergebnisse die Wahlprognosen immer wieder und immer häufiger widerlegen, zuletzt ganz eindeutig bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, lassen sich immer noch genügend Wähler auf diese Weise in ihrer Entscheidung manipulieren und wählen entweder gar nicht oder das "kleinere Übel". Die Partei der Nichtwähler beträgt inzwischen über 30 Prozent, überwiegend aus dem rechten politischen Spektrum.

Es gehört zu den Absurditäten dieses Wahlkampfes beziehungsweise überhaupt unseres gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Zustandes, daß sich alles zur Mitte drängelt. Dort würden angeblich die Wahlen entschieden. Hier liegt die ebenso große wie reale Chance für die "Sonstigen" – sofern sie sich durch die Quarantäne-Behandlung maßgebender Kreise nicht irritieren lassen. Alle großen geistigen und politischen Bewegungen sind zunächst (und oft für lange Zeit) von entschlossenen, opferbereiten Minderheiten getragen worden, häufig ohne Aussicht auf baldige Erfolge. Man denke an das Christentum oder an die mittelalterlichen Reformbewegungen, an den Sozialismus/Kommunismus oder an die Wiederstandsbewegungen gegen die totalitären Systeme unseres Jahrhunderts.

Die hemmungslose, jeder rationalen Kontrolle entglittene Agitation der "politischen Klasse" in Deutschland "gegen Rechts" ist ein zuverlässiges Indiz für die dumpfe, gleichwohl instinktsichere Ahnung vom Anbruch einer großen politischen und geistigen Wende. Wie immer auch das Wahlergebnis am 27. September ausfällt und welche parteipolitischen Rochaden danach gezogen werden: die Einsicht wächst, daß die großen Herausforderungen unserer Zeit ein radikales Umdenken bewirken und daß die wesentlichen Impulse dafür von den Menschen ausgehen, die "den Mut haben, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen" (Kant).Und sei es in der Wahlkabine!

In seinen Gedanken zur Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege hat Dietrich Bonhoefer bemerkt: "Nicht Genies, nicht Zyniker, nicht Menschenverächter, nicht raffinierte Taktiker, sondern schlichte, einfache, gerade Menschen werden wir brauchen." Sie haben unser Land nach dem Kriege wieder aufgebaut. Sie werden es auch erhalten!


 
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