© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Die eigene Krise ermessen
von Werner Olles

Wenn Deutsche über die Nation oder über nationale Identität sprechen, dann geht es dabei auch immer irgendwie darum, die unangenehme Vergangenheit zu verdrängen oder nicht zur Kenntnis zu nehmen, denn anscheinend überfordert es die Kraft des Menschen, sich ein Bild von der Vergangenheit zu machen und dabei die Voraussetzungen dieser Vergangenheit als reales Faktum hinzunehmen. Dazu kommt, daß man bei ihrer Betrachtung nicht in den alten Fehler verfallen sollte, seine eigene Gedankenwelt ungebrochen auf die leidige Vergangenheit zu übertragen. so etwas kann nämlich nur schiefgehen.

Eine wichtige Tatsache darf man jedoch bei der Diskussion um die Frage, was heute national ist, niemals vergessen: Der Nationalsozialismus hat das Deutsche Reich in Trümmern versinken lassen, und auch den tapfersten Widerstandskämpfern gelang es nicht, das Finis Germaniae zu verhindern. Neue Staatlichkeiten entstanden nach 1945, aber das Reich war für immer dahin. Dies sind – ob es einem nun gefällt oder nicht – die Voraussetzungen dafür, über die Bedeutung des Begriffes "national" in Deutschland ernsthaft zu debattieren. Zudem kann man sich als Deutscher nur langsam und behutsam an diese Frage herantasten, will man nicht das Kind mit dem Bade ausschütten.

In diesem Zusammenhang die zwanziger und dreißiger Jahre wiederbeleben zu wollen ist in jedem Falle kontraproduktiv und erinnert fatal an den peinlichen Proletkult der KPD/ML und KPD/AO der siebziger Jahre. Das Zitat des Nationalrevolutionärs und Freikorps-Kämpfers Ernst von Salomon über "die Nation, die keine andere Grenze kennt, als die Kraft ihrer Männer" mag vor siebzig Jahren gewiß revolutionär geklungen haben und auch so gemeint gewesen sein, heute sind derartige Beschwörungsformeln nur lächerlich und desavouieren wie andere "Blut und Boden" Formeln von vornherein die gesamte Diskussion.

Insofern ist auch die radikale Rechte sehr schnell aus dem Spiel. Bei ihr bedeutet "national" auch immer die Ausgrenzung von Minderheiten und unliebsamen Außenseitern. Die Nation muß aber jederzeit stark genug sein, Minderheiten zu ertragen und bis zu einem gewissen Grad auch zu integriren. Und der Bürgerkrieg, mit dem die radikale Rechte ja stets schwanger geht, würde gerade die Nation zerreißen. Dieses zu verhindern, ist aber die Hauptaufgabe national denkender Menschen. Eine unwirksame und keineswegs geeignete Alternative dazu ist die liberale Linke mit ihrem emotionslosen Habermas’schen Verfassungspatriotismus. Was ein paar eingefleischten Intellektuellen vielleicht attraktiv und vorbildlich erscheint, ist für die meisten Bürger nichts als ein Stück Papier, das mit ihrem wirklichen Leben nur wenig zu tun hat.

Die extreme Linke ist mit ihren antinationalen und abstoßenden Parolen "Nie wieder Deutschland!" oder gar "Deutschland verrecke!" schließlich nur das Spiegelbild der radikalen Rechten. Diese Antifa-Linke ist dabei in ihren Gewalt- und Untergangsszenarien so urdeutsch, daß es manchem unvoreingenommenen Beobachter aus dem eigenen politischen Lager schon unheimlich wird. Was übrigbleibt, ist einerseits eine patriotische und nonkonformistische Linke und andererseits eine demokratische Rechte, die heute um die Klärung der Frage der Nation und der nationalen Identität streiten. Dieser Streit ist auch bitter notwendig, denn während die patriotische Linke ihre Aufgabe darin sieht, die Nation sozial zu gestalten – was vollkommen legitim ist – scheitert sie zumeist an der Problematik der Zugehörigkeit zur Nation. Die demokratische Rechte hat hiermit hingegen viel weniger Probleme, kann sich aber bei Fragen zur Arbeitslosigkeit oder zur Globalisierung oft nicht zu einer klaren Aussage durchringen und hat zudem in der Vergangenheit mit infantilen Sprüchen wie "Survival of the Fittest" erhebliche Flurschäden angerichtet.

Relativ einfach hat die konservative Rechte es mit dem Problem der Zugehörigkeit zur Nation, die für sie zu Recht eine Frage der Staatsbürgerschaft ist. Daß die Globalisierung und die mit ihr einhergehenden Schwierigkeiten meist schlimmere Folgen haben als die Einwanderung Fremder, hat vor kurzem Alain de Benoist in einem JF-Interview überzeugend aufgezeigt. Wer heute mit offenen Augen durch eine deutsche Großstadt geht, kennt die gleiche Stadt wenige Wochen später kaum noch wieder, so rasend schnell sind die Veränderungen, denen in aller Regel alteingesessene Geschäftshäuser zum Opfer
fallen. Diese "ungeheure Beschleunigung zum Tode hin" (Günter Maschke) nicht sehen zu wollen, oder gar noch als ökonomischen Fortschritt zu verkaufen, ist ein enormer Fehler, dem immer noch nicht wenige Konservative und Rechte verfallen sind. Anstatt nach Kräften zu versuchen, der technischen und ökonomischen Raserei Widerstand zu leisten, wird diese Problematik verdrängt oder als nicht existent beschrieben.

Auf der anderen Seite ist es aber ebenso unredlich, die Probleme der Überfremdung und Umvolkung zu verschweigen. Es gibt zum Beispiel heute im Frankfurter Bahnhofsviertel mit einem Ausländeranteil von über achtzig Prozent ganze Straßenzüge, in die sich selbst am hellen Tage kein Polizeibeamter mehr hineinwagt. Und es geht natürlich nicht an, Bürgern, die schon ein oder mehrere Male physisch attackiert oder bedroht wurden, dies als "multikulturelle Errungenschaften anzupreisen". Diejenigen, die auf derartige untragbare Zustände hinweisen, sind in aller Regel alles andere als Ausländerfeinde oder Rassisten, denn es gehört inzwischen eine ganze Menge Mut dazu, sich öffentlich in Gegensatz zur Politischen Korrektheit zu bringen. Dennoch muß eines klar sein: Kein Staat, der etwas auf sich hält, darf auf seinem Territorium rechts- oder staatsfreie Räume dulden. Dadurch wird der Gewalt und dem Verbrechen Tür und Tor geöffnet, das Gewaltmonopol des Staates untergraben und einer terroristischen Willkürherrschaft "Fünfter Kolonen" der Weg geebnet. Gerade im Sinne der Schwächeren hat der Staat hier darauf zu achten, daß Recht und Gesetz für alle gelten!

Die patriotische Linke und die demokratische Rechte können also nur voneinander lernen. Bei der Beantwortung der Frage, was heute national ist, dürften die Antworten vielfältig und manchmal auch mehrdeutig sein: Solidarität zu üben nach innen und außen; die soziale Frage wieder ernst zu nehmen, einzutreten für Gott, Vaterland und Menschenwürde, den Extremisten aller Lager keine Chancen zu bieten für ihre Demagogien. Wenn linke und rechte Patrioten sich darauf einigen könnten, wäre schon vieles erreicht.

Bis dahin ist jedoch noch ein weiter und steiniger Weg. Bislang ist die Herausbildung einer gesunden, nicht-chauvinistischen Identität immer noch an der "Migräne der Fremdheit" (Malcolm Lowry ) gescheitert, die nicht einmal in der kleinsten Gemeinde noch "einigendes Band zwischen den Menschen" (Günter Maschke) zuläßt. Zwar wissen die Deutschen mehr als je zuvor über das Leben fremder Völker Bescheid, aber die eigene Leere wahrzunehmen und die eigene Krise zu ermessen, erfordert eine Begabung und einen Sinn für die Realitäten, die wir alle noch zu lernen haben. Solange wird auch die Frage, was heute eigentlich national ist, letztlich ungelöst bleiben.


 
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