© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Pankraz, R. Sennet und der Geist der flüssigen Nomaden

In seinem Wahlprogramm verlautbart der Kanzlerkandidat Schröder, daß auch er – wie einst H. K. in jugendfrischen Tagen – so etwas wie eine "geistig-moralische Wende" anstrebe. Aber wenn man alles zusammennimmt, was er sonst dazu geäußert hat, steht im Geistig-Moralischen unter seiner Ägide wohl eher eine Art Stau-Auflösung bevor denn eine Wende, eine Verflüssigung der geistigen Standards, etwa im Sinne des legendären Parteitheoretikers Eduard Bernstein: "Die Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts."

Alles soll vorangetrieben werden, "innoviert" und in Schwung gebracht werden, jedem Zeitgenossen, der es sich am Wegesrand der Gewohnheit ein bißchen gemütlich machen will, soll kräftig in den Hintern getreten werden, entsprechend den Angeboten der "globalisierten Märkte", Dauerinnovation, Mobilität, Jugendlichkeit – das sind die Hauptschlagwörter der von Schröder ins Auge gefaßten geistig-moralischen "Wende", nur ganz am Rande ein wenig umflankt von den Vokabeln "Solidarität" und "Verläßlichkeit".

Kritischen Soziologen fällt es natürlich leicht, solche Reden als "neoliberalistische Ideologie zur Senkung gediegener Sozialstandards" zu denunzieren. Der moderne, "flexible" Kapitalismus, sagt beispielsweise Richard Sennet, braucht ein Geistesklima, in dem "gebrochene Biographien" propagiert werden. Die Menschen sollen sich nicht mehr darum bemühen, im Rahmen einer überkommenen Werteordnung und in Übereinstimmung mit ihr einen würdigen Platz zu finden und sich auf ihm zu bewähren, sondern sie sollen zu geistigen Nomaden werden.

So, wie die Arbeitsplatzsuchenden des flexiblen Kapitalismus im Wohnwagen den jeweiligen Innovationsplätzen des vagabundierenden Kapitals hinterherfahren, so sollen sie auch geistig und moralisch zu Wohnwagenbenutzern werden und ihre Überzeugungen wechseln wie Hemden, je nachdem, was von ihnen verlangt wird. Sie sollen im Hinblick auf ihre Biographie keine "Heldenerzählung" mehr erfinden, keine "Charaktermasken" mehr anlegen, sondern ihre Seelen durch und durch flüssig halten, so daß sich nie ein funktionsfeindlicher Pfropfen bilden kann. Daher die Predigten.

 

Soweit also Sennet und andere. Pankraz ist mit ihnen ziemlich einverstanden, aber der von ihnen in altbekannter Marxistenmanier postulierte Kausalnexus zwischen Wirtschaft und "Ideologie" leuchtet ihm nicht ein. Das Kapital benötigt Wanderarbeiter, und deshalb predigt Schröder (oder Roman Herzog mit seinem "Ruck" oder Helmut Kohl mit seiner "Wagnisgesellschaft") geistiges Nomadentum? So einfach sollte man es sich nicht machen.

Die Politiker wollen schließlich gewählt werden, und gewählt werden sie nicht von irgendeinem Kapital, sondern von Wählern. Ihr geistig-moralisches Verflüssigungsgerede richtet sich an eine intellektuelle Wählerklientel, die nicht unbedingt mit kapitalismusfreundlicher Nomadentheologie zu gewinnen ist. Gekitzelt wird vielmehr die nicht zu Unrecht verbreitete Ansicht, daß die Dinge bei uns tatsächlich ins Stocken gekommen sind, daß überall fette Pfropfen in den Venen sitzen und den Blutkreislauf lebensgefährlich blockieren. Man kann schon verstehen, daß da Bilder aus der Gereatrie bemüht werden.

Die Pfropfen bestehen nun freilich nicht aus geistig-moralischen Überbleibseln, sondern verdanken sich im Gegenteil dem Fehlen geistiger und moralischer Fermente im Blut der Nation. In den letzten sechzehn Jahren ist eine derartige Wurstigkeit gegenüber geistigen Ansprüchen und moralischen Tugenden im politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben eingerissen, daß man sich nicht zu wundern braucht, wenn jetzt nur noch alle nomadenhaft ihrem eigenen (oft genug nur vermeintlichen) Vorteil hinterherlaufen und sich dadurch gegenseitig blockieren.

Weiter auf diesem Wege fortzuschreiten, indem man – wie Schröder es allzu oft tut – in schier hemmungsloser Weise den voll globalisierten und flexibilisierten Erfolgsmenschen herauskehrt, würde geradewegs ins Unheil führen. Selbstverständlich braucht ein gutes Gemeinwesen unternehmungslustige, in einem gewissen Sinn elastische, anpassungsfähige Bürger, aber mindestens genauso dringend braucht es ein Gelände, in dem diese Bürger sich wirklich zu Hause fühlen können, das sie schützt, indem sie es schützen, und in dessen Meridiane sich eine halbwegs ansehnliche biographische "Erzählung" (Sennet) eintragen läßt.

Und es braucht ferner Ruhe- und Rückzugsräume, die nicht einem Pissoir auf einem Wohnwagenplatz oder dem Berliner Tiergarten nach der "Love Parade" gleichen, feinere, privilegierte Bezirke, in denen man sich wirklich erholen kann. Die Kultur ist gewiß nicht nur dazu da, um die Leute zu neuen, unbekannten Ufern zu treiben, ihr wohnt durchaus auch ein repräsentatives, ausstaffierendes und Glanz verbreitendes Moment inne; bisher hat das nur ein einziger der kulturellen Schröderberater, Jürgen Flimm, anzumerken gewagt.

Die Kultur, der Geist (von der Moral ganz zu schweigen), ist in ihrem tiefsten Wesen konservativ, normsetzend, Ordnung stiftend, der Verflüssigung abhold. Sie hebt Strecken aus dem Strom der Zeit heraus, um sie für Erinnerung und Nachahmung geeignet zu machen, und sie adelt Orte, etwa durch Tempel, Kathedralen, so daß diese dann nicht ohne weiteres einem in Geld meßbaren Verwertungsprozeß ausgeliefert werden können. Insofern ist sie der natürliche Gegenpol des flexiblen Kapitalismus und sollte in dieser Position respektiert werden.

Mag sein, ohne einen ordentlich funktionierenden Kapitalismus können wir nicht gut leben. Doch ohne Geist und Moral könnten wir überhaupt nicht leben. Dieser Einsicht wieder zu mehr Anerkennung zu verhelfen, wäre des Schweißes einer neuen Regierung sehr wert und verdiente sogar den Namen "Geistig-moralische Wende". Wo aber sind die Akteure, die diesen Glanz in unsere arme Hütte zurückbringen?


 
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