© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Soziales: CDU-Ministerin Nolte sieht wenig Handlungsbedarf
Kinderarmut ist relativ
von Ilona Keil

Es gibt in Deutschland keine nennenswerte Armut unter Kindern und Jugendlichen. Armut findet sich lediglich dort, wo Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen wird. Nicht akzeptabel ist zudem die weit verbreitete Praxis, den Bezug von Sozialhilfe mit Armut gleichzusetzen. Daraus wiederum muß der Schluß gezogen werden, daß die ansteigende Zahl der Sozialhilfeempfänger – 1997: 2,92 Millionen Menschen in 1,5 Millionen Haushalten – keinen Hinweis auf eine wachsende Armut in der Gesellschaft gibt. Vielmehr konnte durch Leistungsverbesserungen der Kreis der Leistungsberechtigten ausgeweitet werden: Dererlei Ungereimtheiten äußerte vergangene Woche ausgerechnet Bundesfamilienministerin Claudia Nolte (CDU) anläßlich der Vorstellung des "Zehnten Kinder- und Jugendberichts", den das Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen (ZUMA) in Mannheim im Auftrag der Bundesregierung erstellt hatte.

Nach Meinung der Ministerin lag der Anteil der Kinder und Jugendlichen "in einkommensschwachen Familien" in Westdeutschland "deutlich" unter den Werten von Anfang der 80er Jahre. Je nach dem, welche Berechnungsart zugrundegelegt werde, variierte 1996 der Anteil der Kinderarmut zwischen 5,9 Prozent und 15,2 Prozent. In den neuen Bundesländern soll der Anteil der Kinderarmut sogar unter dem des Westens gelegen haben: Lediglich zwischen 4,1 und 8,5 Prozent der Heranwachsenden lebten in einkommensschwachen Haushalten. Genauere Angaben ließen sich "seriös" nicht machen, so die Ministerin.

Auch bei anderen Problembereichen zeigte sich Frau Nolte optimistisch: "Wir haben in einem Arbeitsprogramm mit vielfältigen Maßnahmen den Schutz unserer Kinder vor sexuellem Mißbrauch und vor Kinderpornographie verbessert sowie Schritte gegen Kindersextourismus ergriffen."

Auf die Schönfärbereien Noltes reagieren Vertreter von Wohlfahrtsverbänden mit Kopfschütteln; über die Art und Weise, wie sie sich offensichtlichen Wahlkampfzwängen unterwirft, herrscht Erstaunen. Denn der "Armutsbericht" sieht die Lage keineswegs so optimistisch: Trotz unterschiedlicher Meßverfahren sei nach Ansicht der sieben Sachverständigen die Armut "weit mehr verbreitet", als dies aus den Berechnungen hervorgehe. Im Jahre 1995 waren 21,9 Prozent der unter 16jährigen in den neuen Ländern als "arm" einzustufen, im Westen waren es immerhin knapp zwölf Prozent. Auch die Zahl der obdachlosen und auf der Straße lebenden Jugendlichen nehme zu.

Dem Vorwurf, den Bericht absichtlich zurückgehalten zu haben, entgegnete Frau Nolte damit, die Autoren hätten länger daran gearbeitet als vorgesehen. Dabei war längst bekannt, daß ein Rohentwurf im Herbst 1997 vorlag, und im Juli sickerte durch, daß der Bericht seit Februar fertiggestellt sei und eine hohe Kinderarmut ausweise. Kaum verwunderlich, daß der "Armutsbericht" erst nach der Bundestagswahl der Öffentlichkeit vorgestellt werden sollte.

Dabei steht in dem Bericht kaum etwas, was nicht bereits seit Monaten bekannt sein müßte. Denn bereits im April wies das Institut für Sozialberichterstattung & Lebenslagenforschung (ISL) in Frankfurt/Main, eine der Friedrich-Ebert-Stiftung nahestehende Forschungseinrichtung, in ihrer Studie "Verdeckte Armut in Deutschland" darauf hin, daß auf 100 Sozialhilfeempfänger zusätzlich rund 110 verdeckte Arme kommen, die keine Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten und dadurch unter dem Existenzminimum leben müssen (JF berichtete). Am stärksten betroffen von verdeckter Armut seien Paare mit Kindern und alleinerziehende Mütter. Als besondere Problemgruppe müßten Minderjährige angesehen werden, hieß es in dem Bericht. Die Studie sprach deshalb von einer zunehmenden "Infantilisierung der Armut". Kommentar Seite 2


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen