© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Armut? Existiert nicht!
von Klaus Gröbig

"Wer drei oder mehr Kinder hat, gehört bereits zur Klasse der Asozialen", glaubt der Volksmund. Der vergangene Woche veröffentlichte Bericht einer Expertenkommission zur Kinderarmut spricht unbequeme Wahrheiten aus, welche die Regierung nicht hören will und die von der Opposition im Wahlkampf instrumentalisert werden, ohne daß sie wirklich Abhilfe verspricht. 11,8 Prozent aller Kinder in Westdeutschland und 21,9 Prozent in den neuen Bundesländern beschreibt der Bericht als arm. Die Wahrheit dürfte eher noch düsterer sein, denn viele Eltern bekennen sich nicht zu ihrer Armut und versuchen, so gut es geht, in der Welt der Reisebroschüren, Versandhauskataloge und Speisekarten mitzuhalten, auch wenn sie es sich eigentlich nicht leisten können. Satte 20 Prozent der Haushalte mit alleinerziehendem Elternteil müssen den bitteren Gang zum Sozialamt antreten. Die Versorgung und die Erziehung eines Kindes bis zum 18. Lebensjahr schlägt für dessen Eltern mit mindestens 300.000 DM zu Buche.

Die zuständige Familienministerin Claudia Nolte erklärt, der Weg zum Sozialamt sei keineswegs gleichbedeutend mit Armut. Im Klartext: Handlungsbedarf nicht vordringlich. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sagen: Frau Nolte ist der weibliche David Copperfield der Sozialpolitik; immer wenn sie sich äußert, ist die Kinderarmut gerade verschwunden. Auch sie weiß, daß Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz nur nach einer peinlichen Bedürftigkeitsprüfung durch die Bürokratie gewährt werden. In einem Sozialstaat aber, der seinen Namen verdient, darf die Familie nicht zur Almosenempfängerin des bankrotten Wohlfahrtsstaates werden. Doch zusätzliches Geld für eine angemessene Familienpolitik ist nicht vorhanden. Es ließe sich nur über eine höhere Belastung Kinderloser beschaffen. Es wäre die Pflicht der Familienministerin gewesen, dies offen anzusprechen. Eltern schulpflichtiger Kinder wissen, wie Frau Noltes Verlautbarungen in einem Deutschaufsatz zu bewerten wären: Thema verfehlt, sechs!

Die Familien haben in der Bonner Politik keine Interessenvertretung. Immer mehr Ehepaare entscheiden sich in dieser Situation für nur ein Kind oder bleiben gleich kinderlos. Hieraus folgt die nächste soziale Schieflage bei der Rentenversicherung. Bereits vor zwei Jahren forderte der FDP-Politiker und Ex-Generalbundesanwalt Alexander von Stahl eine Anhebung der Beiträge in der gesetzlichen Rentenversicherung für Kinderlose und eine Senkung der Beiträge für kinderreiche Familien. Die daraus resultierende finanzielle Entlastung der Familien wäre erheblich. Beitrag Seite 9


 
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