© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Religion: Zwei Bücher über Rationalität in der Moderne
Gegen die Entzauberung
von Wolfgang Saur 

Die kontrovers geführte Diskussion in der heutigen Religionswissenschaft über die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte dieser jungen Disziplin vermag auch dem konservativ orientierten Intellektuellen einige Lichter aufzustecken. Es geht, kurz gesagt, um die kardinale Frage, ob die produktive Kraft der Religionsforschung sich einem aufklärerischen oder – gerade umgekehrt – einem aufklärungskritischen Impuls verdankt.

Hans Kippenberg, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Bremen, hat während der letzten Jahre an einem umfassenden Rekonstruktionsversuch der Entstehungsgeschichte seines Faches zwischen 1850 und 1920 gearbeitet. Die Ergebnisse sind in seinem im C. H. Beck Verlag erschienenen Buch über "Die Entdeckung der Religionsgeschichte" nachzulesen. Nach einem philosophiegeschichtlichen Vorspann entfaltet der Abschnitt "Die Entzifferung unbekannter Kulturen" das Thema. Seit 1771 (erstmalige Übersetzung der Avesta) wurden sukzessive die Voraussetzungen für eine "orientalische Renaissance" geschaffen, die es dann ermöglichte, den "kulturellen Provinzialismus Europas" (Mircea Eliade) zu überwinden und die bisherige Normativität des klassisch-antiken sowie des jüdisch-christlichen Erbes erfolgreich zu durchbrechen. Diese Traditionen waren mitverantwortlich für das System der modernen Zivilisation, das sensible Intellektuelle im 19. Jahrhundert zunehmend durchschauten. So analysierte der französische Orientalist Anquetil-Dupperon kritisch den rein extensiven Charakter des zeitgenössischen Wissens: "Man hat die Gestirne gemessen, die Tiefe des Meeres ausgelotet , die ganze Oberfläche des Erdballs durchreist und seine Form bestimmt; ... dies alles für den Menschen. Aber der Mensch selber ist unbekannt geblieben."

An diesem Punkt konnte "Religion" zu einem alternativen Paradigma avancieren und nun die Bedeutung eines kritischen Mediums annehmen, in welchem auf die Defizite gegenwärtiger Kulturbildung zu reflektieren war. Den Kerngedanken seiner Studie drückt der Autor so aus: "Je stärker man den neuen Großmächten der Industrialisierung der Wirtschaft, der Versachlichung der Herrschaft und Individualisierung des Lebens mißtraute und in ihnen eine Bedrohung humanen Lebens sah, um so größer wurde das Interesse an der Geschichte von Religion. Die moderne Gesellschaft brach mit unerhörter Gewalt in die Lebenswelt des Einzelnen und der Nation insgesamt herein ... Intellektuelle sahen in der Religionsgeschichte einen möglichen Kronzeugen dafür, wie sehr die moderne Zivilisation den Menschen beeinträchtigt und ihm schadet."

Als eigentliche Pointe dieses Erkenntnisvorgangs ist nun zu sehen, daß der kritische Impetus nicht zur Ausbildung einer neuen Orthodoxie und Rückwendung auf traditionelle Positionen führte. Vielmehr bleibt im Gegenteil der reflexive Grundanspruch modernen Denkens in den Leistungen der Religionshistoriker "aufgehoben", wird jedoch gleichzeitig umgebildet und weitergeführt zu einer Metakritik, die ganz richtig erkannt hat, daß nichts so aufklärungsbedürftig ist wie Rationalismus und Fortschritt selbst.

Dieser Befund erlaubt uns auch einen Seitenblick auf jene konservativen Zeitdiagnostiker wie Julius Langbehn, Moeller van den Bruck oder Oswald Spengler, die der intellektuellen Avantgarde ihrer Zeit gerade deshalb zuzurechnen sind, weil auch für sie eine Position jenseits erstarrter Tradition und blinden Fortschrittsglaubens charakteristisch war. Die Selbstentfremdung des Lebens in den Strudeln der sozialen Wandlungsdynamik analysierten diese Denker schärfer und erlebten sie bedrängender als die Wirtschaftsbürger. Den frühen Religionshistorikern kam eine verbreitete Stimmung entgegen: Von ihren exotischen Forschungsgegenständen ging eine große Faszination aus. Die archaischen Rituale und Symbole legten eine "Unterschicht von Wildheit" frei und ließen die eigene Zivilisation in einem anderen Licht erscheinen. Der abendländische Rationalisierungsprozeß, so Max Weber, hatte durch Technik, Ökonomie, Wissenschaft und Bürokratisierung die Lebenswelten entzaubert und degradiert.

Um 1900 weitete sich die kulturkritische Debatte aus zu einer breiten Strömung. Auf die enorme Durchpolitisierung des Lebens reagierte das Bildungsbürgertum, vor allem in Deutschland, mit der Ausbildung von pessimistischen, apolitischen und neoidealistischen Vorstellungen. Im Mittelpunkt dieser Diskussion stand die Auseinandersetzung um "Kultur und Zivilisation". Die äußere Wirklichkeit schien neuerdings den Menschen in einer totalen, vorher undenkbaren Weise zu beanspruchen und seine seelischen Bedürfnisse zu ersticken. Nur das "Erlebnis echter Mystik" könne die Menschen vom Zwang des Rationalismus befreien.

Diese Konstellation verdeutlicht zugleich die Schwierigkeit, welche die nunmehr von den Individuen selbst zu leistende Sinnbildung in der Moderne aufwirft. Konfrontiert mit einer Welt, die einen Bedeutungskosmos nicht mehr zu begründen und echte Orientierung nicht mehr zu leisten vermag, vor allem aber den "metaphysischen Bedürfnissen des Geistes" (Max Weber) gegenüber taub bleibt, sieht der Einzelne sich auf sich selbst zurückgeworfen.

Nicht nur die einstige institutionelle Vorherrschaft der christlichen Kirchen in der Gesellschaft ist gebrochen worden; auch ihre religiösen Orientierungsangebote sind fragwürdig geworden, seitdem sie im Modernisierungsprozeß ihre Selbstauflösung betreiben und statt wahrer Religiosität rationale Gesinnungsethik bieten. Damit entsteht eine ganz neue Situation jenseits von traditionellem Konfessionalismus und Religionskritik: die Verschränkung von Entkirchlichung und authentischer Religiosität.

Zeitgleich mit Kippenbergs anregender und perspektivenreicher Wissenschaftshistorie bringt der Beck-Verlag nun einen weiteren Band in seiner höchst achtbaren Reihe kulturwissenschaftlicher Klassiker heraus. Nach den "Klassikern der Theologie" (1988) und den "Klassikern der Religionsphilosophie" (1995) stellt ein vom Heidelberger Religionshistoriker Axel Michels edierter Band die "Klassiker der Religionswissenschaft" vor. Umsichtig und kenntnisreich porträtieren die Autoren namhafte Vorgänger von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) bis Mircea Eliade (1907–1986). Über Auswahl und Zusammenstellung läßt sich streiten. So ist man befriedigt, James Frazer, Rudolf Otto oder Nathan Söderblom hier anzutreffen, gleichzeitig wird man Gustav Mensching, Karl Kérenyi oder Heinrich Zimmer schmerzlich vermissen. Dem interdisziplinären Charakter religionswissenschaftlicher Arbeit entsprechend sind dafür im Gegenzug auch Gelehrte aufgenommen, die man in diesem Band nicht vermutet hätte, so etwa Freud und Malinkowski, Durkheim und Weber.

Die einzelnen Beiträge bieten in komprimierter Form eine Einführung in Leben und Werk des jeweiligen Autors, beurteilen dessen Theoriebildung im Kontext der Forschung, referieren den heutigen Diskussionsstand und bilanzieren den bleibenden Ertrag. Je nach eigener Perspektive wird sich der Leser manche Akzente anders gesetzt wünschen.

Partielle Vorbehalte sollten jedoch angesichts der soliden und zuverlässigen Informationsleistung zurücktreten. Abgerundet wird die Darstellung durch einen umfangreichen Anhang, der neben Personen-, Sach-, Autoren-Register und Anmerkungen auch sehr brauchbare Bibliographien enthält, die nicht nur die Quellen selbst, sondern auch eine Fülle einschlägiger Sekundärliteratur verzeichnen. So hat der Beck-Verlag einmal mehr der wissenschaftlichen Erkundung der geschichtlichen Welt zwei nicht unwesentliche Bausteine hinzugefügt.

Hans Gerhard Kippenberg: Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, C.H. Beck, München 1997, 342 Seiten, kt., 38 Mark

Axel Michels (Hrsg.): Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, C.H. Beck, München 1997, 427 Seiten, kt, 49,80 Mark


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