© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/98 21. August 1998


Hendrik de Man: Wanderer zwischen den politischen Welten
Jenseits von Karl Marx
Piet Tommissen
 

In dem 1983 erschienenen und umstrittenen Buch "Ni droite ni gauche" (Weder rechts noch links) des israelischen Historikers Zeev Sternhell, das bekanntlich über den französischen Proto-Faschismus handelt, wird Hendrik de Man als eine Art Reinkarnation von Georges Sorel vorgeführt. Ob und inwiefern diese Charakteristik zutrifft, kann nicht in einem Zeitungsartikel überprüft werden. Gerade deshalb ist eine kurze Lebensskizze dieses Mannes in der heutigen Zeit aufschlußreich.

Der streng erzogene und vom Vater für eine militärische Laufbahn bestimmte Hendrik de Man (1885–1953) geriet schon früh in Konflikt mit dem der bürgerlichen Umgebung seiner Eltern, die er für heuchlerisch hielt. Bereits 1902 engagierte er sich in der sozialistischen Bewegung. Es kam jedoch zu einem Kompromiß mit der Familie, demzufolge der junge de Man seiner Heimatstadt Antwerpen den Rücken kehrte und nach Deutschland zog, dem damaligen Mekka des Marxismus. Er wurde bei der Leipziger Volkszeitung eingestellt, an der marxistische Größen wie Rosa Luxemburg, Karl Radek, Leo Trotzki und Karl Liebknecht mitarbeiteten, eingestellt. Gleichzeitig konnte er seine akademischen Studien fortsetzen: Er hörte beim Psychologen Wilhelm Wundt und beim Historiker Karl Lamprecht und promovierte 1909 summa cum laude über "Das Genter Tuchgewerbe im Mittelalter" – sein Doktorvater war der führende Wirtschaftshistoriker Karl Bücher.

Nach einem einjährigen Studienaufenthalt in England war de Man 1910 zurück in Belgien und übernahm die Führung der "Zentrale für Arbeitererziehung", die er zu einer mustergültigen Organisation ausbaute. Bei Kriegsausbruch traf der notorische Pazifist de Man dieselbe Entscheidung, wie viele seiner Gesinnungsgenossen: er meldete sich als Freiwilliger zur Armee und brachte es zum Offizier. Schwer enttäuscht von der Negierung der 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson und vom Ausbleiben des ersehnten gerechten Friedens ging er in die USA und lernte dort den Taylorismus – das heißt die revolutionäre Optimierung der Arbeitsabläufe vor allem in der Industrie – in Theorie und Praxis kennen. Nach seiner Heimkehr kümmerte er sich von neuem um die Zentrale, indem er unter anderem in Brüssel eine – noch immer existierende – Arbeiterhochschule gründete.

Da er sich mit dem antideutschen Revanchismus der Belgischen Sozialdemokratischen Partei nach dem Ersten Weltkrieg nicht anfreunden konnte, emigrierte er 1922 abermals nach Deutschland, wo er 1926 als Dozent an der in Frankfurt am Main etablierten "Akademie der Arbeit" lehrte und 1929 bis 1933 an der Frankfurter Universität den ersten Lehrstuhl für Sozialpsychologie innehatte. Überzeugt von der Unzulänglichkeit bzw. vom obsoleten Charakter der klassischen marxistischen Doktrin, suchte er einen zeitgemäßen Ausweg jenseits der Lehren des Duumvirats Marx-Engels. Das Ergebnis seiner revisionistischen Anstrengungen hat er in drei aufsehenerregenden Büchern zu Papier gebracht und sich so zu einem der fesselndsten Ideologen der Zwischenkriegszeit hervorgetan.

"Zur Psychologie des Sozialismus" (1926) enthält eine Kritik nicht von Marx, sondern des Marxismus, den er als ein Kind des 19. Jahrhunderts entlarvte. Im Gegensatz zu dieser eher negativen Analyse schuf de Man in "Die sozialistische Idee" (1933) die theoretischen Grundlagen für eine positive Interpretation des Ursprungs, des Wesens und der Aufgaben der sozialistischen Bewegung. Ein Fall für sich ist "Der Kampf um die Arbeitsfreude" (1927), eine Pionierarbeit auf dem Felde der Industriesoziologie, obschon aus heutiger Sicht das verwendete Fragebogenverfahren überholt ist und die Darstellung der die Arbeitsfreude determinierenden Faktoren primitiv anmutet.

Wie dem auch sei, aufgrund dieser Bücher wurde de Man sowohl von linken wie von rechten Kreisen immer wieder zu Vorträgen geladen. Ein besonders eklatantes Beispiel des linken Interesses war eine Manifestation der sogenannten religiösen Sozialisten; gemeint ist die 1928 stattgefundene Heppenheimer Debatte über die Begründung des Sozialismus, an der auch Paul Tillich, Martin Buber und Eduard Heimann teilnahmen und an der de Man sich mit einem Referat über "Sozialismus aus dem Glauben" beteiligte. Beispiele seiner Teilnahme an rechten Initiativen sind seine Beiträge in der Europäischen Revue des Prinzen Rohan und sein Auftreten in der Darmstädter "Schule der Weisheit" des Grafen Hermann Keyserling.

Von den Nazis als Hochschullehrer entlassen, kehrte de Man 1933 nach Belgien zurück und wurde von der Belgischen Sozialistischen Partei zum Direktor der parteinahen Dienststelle für Sozialforschung ernannt; in dieser Eigenschaft arbeitete er einen Plan zur Behebung der Folgen der internationalen Wirtschaftskrise und einen entsprechenden Arbeitsplan aus. Der Erfolg war unerhört: Der "Plan de Man" wurde Weihnachten 1933 von seiner Partei gutgeheißen, der "Planismus" sogar in Holland, Frankreich, Italien und der Schweiz (leider nicht mehr in Deutschland) diskutiert. Allerdings gelang es seinem zum Vize-Vorsitzenden der Partei gewählten Urheber nicht, seine Ideen in Belgien zu realisieren, so daß er 1938 als Finanzminister zurücktrat. Dessenungeachtet folgte er im Mai 1939 dem fast legendären Emile Vandervelde als Vorsitzender der Partei nach.

Inzwischen drohte der Krieg. Mit seinem Parteigenossen Paul-Henri Spaak befürwortete de Man einen nationalen Sozialismus und eine autoritäre Demokratie; außerdem startete er eine hochkarätige Zeitschrift mit dem bezeichnenden Titel Leiding (Führung). Darüber hinaus unterstützte er die Neutralitätspolitik des Königs Leopold III. und führte in dessen Auftrag Sonderkommissionen aus. Als Offizier begleitete er den König während des Feldzugs vom Mai 1940. Sofort nach der Kapitulation der belgischen Armee löste er seine Partei auf und gründete eine Einheitsgewerkschaft. Aber seine Sondierungen im Hinblick auf die Etablierung einer nationalen Regierung verliefen im Sande, und de Man zog sich kurzerhand aus der Öffentlichkeit zurück. Er reiste öfters nach Paris, wo er Ernst Jünger kennenlernte, und wohnte seit November 1941 fast ständig in einer Alpenhütte im französischen Departement Haute Savoie. Dort schrieb er einige seiner Bücher.

Im August 1944 – die alliierten Truppen stießen bereits nach Holland vor – überquerte de Man heimlich die französische Grenze und erhielt von der zuständigen schweizerischen Behörde den Status eines politischen Flüchtlings. Ungeachtet der schriftlichen Rechtfertigung seiner Haltung 1940 bis 1945 wurde er Mitte September 1946 von einem belgischen Militärgerichtshof zu einer zwanzigjährigen Haftstrafe und zur Zahlung einer Riesensumme verurteilt. Unter dem Eindruck der Atombombe verfaßte de Man 1946 in französischer Sprache das Buch "Au delà du nationalisme" (Jenseits des Nationalismus), in dem er sich, etwa im Sinne Jüngers, für eine Weltregierung aussprach. Seine wichtigste Nachkriegsveröffentlichung, sozusagen sein geistiges Testament, hat er jedoch in deutscher Sprache geschrieben: Dem Titel entsprechend befaßt sich "Vermassung und Kulturverfall" (1951) mit dem Problem des kulturellen Desasters. In diesem Buch findet sich übrigens ein Hinweis auf die vor einiger Zeit vom
Amerikaner Francis Fukuyama volkstümlich gemachte Idee der Posthistoire, der Arnold Gehlen eingestandenermaßen angeregt hat.

Am 20. Juni 1953 kamen de Man und seine dritte Frau tragisch ums Leben; in Deutschland brachte die Zeitschrift für Geopolitik einen langen und zugleich sympathisierenden Nachruf. Wie üblich, fing die Diskussion über Leben, Werk und Bedeutung de Mans erst kurz nach seinem Tode an. Es kam sogar zur Gründung eines Vereins, der sich zum Ziel setzte, seine Errungenschaften und Irrtümer wissenschaftlich aufzuarbeiten. Bis heute ist über de Man das letzte Wort nicht gesprochen, trotz mehrerer Monographien und vieler Spezialstudien und trotz der Schlußfolgerungen Sternhells.

 

Prof. Dr. Piet Tommissen lehrte an der Economische Hogeschool Sint-Aloysius in Brüssel. Er ist international durch seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen über Carl Schmitt bekannt geworden.


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