© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/98 21. August 1998


Der Maßstab
von Paul Latussek
 

Wer die polnische Presse in den letzten Tagen aufmerksam verfolgt, erkennt die Argumentation: Die Polen sind unschuldig an der Vertreibung der Deutschen. Die Siegermächte haben die Vertreibung beschlossen, und die Polen haben nur das getan, was man ihnen aufgetragen hat. Der Täter wird zum Opfer.Wenn es so weitergeht, kommt am Ende heraus, daß die deutschen Opfer sich selbst umgebracht haben, daß es der Wunsch der Vertriebenen war, die Heimat zu verlassen. Ein Unrechtsbewußtsein ist in Polen offensichtlich nicht vorhanden. Dies ist zu bedauern, besonders deshalb, weil die deutschen Heimatvertriebenen mit der Charta der Heimatvertriebenen bereits 1950 die Hand zur Versöhnung ausgestreckt haben, die man offensichtlich nicht ergreifen will. Menschenrechtsverletzungen gegenüber Deutschen werden im geschichtlichen Rückblick zu Kavaliersdelikten abgewertet. Den deutschen Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, um damit eine Belastung des zukünftigen Zusammenlebens zu beseitigen, wird als überflüssig angesehen. Im Gegenteil, die Forderung der Heimatvertriebenen, auf der Grundlage des Völkerrechts die Unrechtsfolgen der Vertreibung zu beseitigen, werden als Belastung des deutsch-polnischen Verhältnisses dargestellt. Was will ein solches Polen in einer Rechtsgemeinschaft Europäische Union? Polen handelt im Eigeninteresse. Das ist verständlich. Daß Jahre nach der Wende in Europa immer noch eine Denkweise vorhanden ist, die einem demokratischen Rechtsverständnis entgegensteht, ist nur dadurch zu erklären, daß das fehlende Unrechtsbewußtsein der Polen von der deutschen Politik nie als Mangel herausgestellt worden ist. Wenn Polen nach Europa will, muß es begreifen, daß der Beitritt in einem Prozeß erfolgt, in dem Geben und Nehmen selbstverständlich ist. Der Fehler deutscher Politik besteht darin, dem polnischen Unrechtsbewußtsein das Wort zu reden.

Ein Beispiel gab die Bundestagspräsidentin Frau Süssmuth bei ihrem jüngsten Besuch in Polen. Um den polnischen "Zorn" über die Einforderung der völkerrechtlich abgesicherten Rechte durch die Vertriebenen zu besänftigen, hat sie eine weitere Demütigung der Vertriebenen vorgeschlagen, hat die Aussetzung der Niederlassungsfreiheit und des Rechts auf Immobilienerwerb für Deutsche auch nach dem Eintritt Polens in die EU vorgeschlagen. Die europäischen Rechtsstandards sollen ausgesetzt werden, wenn diese im Ansatz gleiche Rechte für Deutsche in ihrer alten Heimat beinhalten. Was für ein Polen wollen Sie in der Europäischen Union, Frau Süssmuth? Das Demokratieverständnis in Polen wird auch am Standpunkt zu den Rechtsansprüchen der deutschen Heimatvertriebenen zu messen sein.


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