© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Ost-Berlin 1956: Studentenunruhen an der Uni forderte Tote
Die Knochen zerschlagen
von Manfred Bartz 

Am 3. November 1956 kam mein Vater, damals Oberst und Kaderleiter der Polit-Offiziere der NVA im Ministerium für nationale Verteidigung, erst früh um fünf Uhr nach Hause und erzählte mir beim Frühstück, daß er von einer Nacht- und Krisensitzung der Abteilung Sicherheit beim Zentralkomitee der SED käme. Alle bewaffneten Organe hatten Alarmbereitschaft. Es hätte konterrevolutionäre Studentunruhen an der Berliner Humboldt-Uni gegeben. Die Partei hätte bewaffnete Kräfte eingesetzt, und die Kampfgruppen hätten vier Rädelsführer eine Dreiviertelstunde nach Festnahme auf dem Hof erschossen." Er endete mit: "Aber halt ja die Fresse!"

Mit dem Hof konnte nur der Hof der Friedrich-Engels-Kaserne der Bereitschaftspolizei gleich hinter der Humboldt-Uni am Kupfergraben gemeint gewesen sein. Die Einheit war im Einsatz gewesen. Dort hatte sich auch das Einsatzzentrum befunden. Anlaß für die Studentenunruhen waren die Entstalinisierung in Polen und der gleichzeitige Volksaufstand in Ungarn.

Am 30. Oktober hatte es eine Versammlung von Studenten der Medizinischen Fakultät gegeben, auf der gefordert wurde: Zulassung eines von der FDJ unabhängigen Studentenverbandes; kein Russisch- und Marxismus-Unterricht; die vollständige Veröffentlichung einer Entstalinisierungsrede des polnischen Parteivorsitzenden Gomulka (Die vielgelesene Berliner Zeitung am Abend mit der ungekürzten Rede war an den Kiosken konfisziert worden).

Im Präsidium der Versammlung saß der SED-Bezirkssekretär Alfred Neumann. Staatssicherheitsminister Wollweber steckte die Offiziersschüler der Stasi-Hochschule für Justiz in Potsdam in Kampfgruppenuniform und ließ sie auf LKWs zur Berliner Charité fahren. Dort marschierten sie in den Hörsaal der Zahnmedizin ein, versperrten den Ausgang mit Tischen, sprangen mit ihren Waffen auf die Tische und sangen das Weltjugendlied. Angesichts dieser filmreifen Show sagte Neumann, der sich vorher viel Kritik anhören mußte: "Da sind die Kampfgruppen. Hört uff mit die Scheiße! Wenn ihr die Arbeiterfäuste kennenlernen wollt, könnt ihr sie haben!" Dabei sprang er, von hoher Gestalt, auf und schüttelte seine Fäuste. Mehrere Funktionäre drohten: "Wir werden euch die Knochen zerschlagen!"

Benito Wogatzki war damals Student der Veterinärmedizin an der Uni und später verdienstvoller Agrar-Schriftsteller im Dienst der SED. Über die Ereignisse hat er den Tendenzroman "Das Narrenfell" verfaßt und "Weltjugendlied" und "Knochen zerschlagen" nicht weggelassen.

Am 2. November wiederholten Studenten der Veterinärmedizin auf einer Versammlung im Hörsaal der Anatomie die Forderungen ihrer Kommilitonen und verlangten außerdem einen Studentenaustausch mit dem Ausland – auch dem westlichen –, westliche Fachliteratur und die Rückgabe eines Uni-Gebäudes, das die Volkskammer der DDR nutzte. Der Kommandant der Friedrich-Engels-Kaserne der Bereitschaftspolizei, Oberst Mäder, ließ auf den gegenüberliegenden Dächern MGs so in Stellung bringen, daß sie in die Fenster schießen konnten. Dann ging er samt Adjutanten, mit Stahlhelm und Pistole in die Versammlung und drohte, in zehn Minuten aus allen Rohren schießen zu lassen, wenn der Saal bis dahin nicht geräumt wäre. Draußen warteten kräftige Herren in Ledemänteln.

Wer aber wurde am nächsten Tag erschossen und warum? Bei meinen Recherchen stieß ich auf wiederholte Äußerungen einiger SED-Funktionäre über ein bestimmtes Flugblatt von der CIA-gesteuerten "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit" (KGU), das an der Humboldt-Uni verteilt wurde. Der markanteste Satz: "Schlagt die Funktionäre tot", konnte wohl kaum Ulbrichts Zustimmung finden. Die KGU wollte und sollte die demokratischen Proteste ausnutzen, um die Suppe der CIA zu kochen, und hat die naiven Flugblattverteiler im kalten Krieg verheizt. Denn der Plan, in der DDR durch Aufrufe einen Aufstand analog zu Ungarn auszulösen, war völlig utopisch, selbstmörderisch.

Das Flugblatt und der erwähnte Satz wurden von SED-Funktionären mehrmals erwähnt, von Kurt Hager, von Alred Neumann und von Walter Ulbricht in der "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung". Es muß auf sie traumatisierend gewirkt haben, schließlich hatten sie die Bilder getöteter ungarischer Parteifunktionäre vor Augen. Am 4. November marschierte die Sowjetarmee in Ungarn ein. Alfred Neumann, der bei Versammlungen immer einen Kaffee trank, der zur Hälfte mit Kognak gemischt war, sagte in einer Studentenversammlung der Humboldt-Uni am 6. November: "Wenn man Flugblätter verteilt, auf denen zu Tätlichkeiten aufgefordert wird, dann ergreifen wir unsere Maßnahmen. Wenn Zettel verteilt werden: Schlagt die Genossen tot!, dann brauchen die nicht glauben, daß wir stillhalten." Das war guter Kognak.

Es ist wahrscheinlich, daß Neumann das Erschießungskommando kommandiert hat. Damals unterstanden ihm die Berliner Kampfgruppen. Er war Spanienkämpfer und nicht zimperlich. Er ist nie von Strafverfolgungsbehörden belästigt worden. Er war seit Jahren nicht im Fernsehen. So einen vergißt man. Als ich ihn aufsuchte und meinen Namen nannte, war er sofort im Bilde und schrie mich an: "Ihre Beschuldigungen gegen mich sind alle nicht wahr! Alles Lüüügäääh!"

Mit der offiziellen Bestrafung und Exmatrikulation von Studenten mußte Ulbricht noch fünf Monate warten, weil er die SED nicht hinter sich hatte. Nach den Ereignissen war die Mehrheit der Parteigrundorganisationen im Hoch- und Fachschulbereich für Gomulka, gegen Ulbricht. Am 16. Mai 1957 gab der Pressechef der Stasi, Oberst Borrmann, eine Pressekonferenz und kündigte an, daß jetzt hart durchgegriffen würde. Über 120 Studenten wanderten ins Gefängnis, viele flohen in den Westen. Borrmann beschuldigte alle oppositionellen Studenten, Agenten der CIA zu sein, was natürlich Unsinn war. Nur jene Studenten, deren Idealismus tatsächlich von CIA und KGU mißbraucht worden waren und die sich als Flugblattverteiler hatten anheuern lassen, wurden mit keinem Wort erwähnt. Was hätte Borrmann auch zu ihrem Verbleib sagen sollen? Auch im Westen wurde das inkriminierte Flugblatt zum "Unpapier", ein Interesse, das Schicksal der Studenten aufzuklären, bestand nicht. Sogar bei prominenten Antikommunisten obsiegte, wie ich bei meinen Recherchen immer wieder feststellte, die Loyalität zum amerikanischen Geheimdienst über ihren Antikommunismus. Die Namen der Erschossenen wären wahrscheinlich in den Akten des Ostbüros der SPD in Bonn zu finden gewesen, doch leider hat es dort Ende der achtziger Jahre gebrannt, ausgerechnet da, wo diese Akten standen. Der Geschichtsforschung bleibt noch ein weites Feld.


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