© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Unbewältigte Vergangenheit: Tschechische Erinnerungen an den "Prager Frühling" 1968
Der Landesverrat des A. Dubcek
von Ludek Pachmann 

Der Beginn des "Prager Frühlings" war eine Häufung von "Zufällen", wie sie so oft in großen geschichtlichen Augenblicken zusammenkommen. Nach spontanen jugendlichen Protesten mußte Ende Juni 1967 auf dem Schriftsteller-Kongreß eine regelrechte Revolte (Ludvík Vaculík: "Dieses Regime hat in zwanzig Jahren kein menschliches Problem gelöst.") mit harten Repressionen unterdrückt werden. Dann folgten im November desselben Jahres Demonstrationen der Studenten für bessere Wohnungen, die am 31.11. von der Polizei brutal beendet wurden, sowie ein massiver Streit in den höchsten Parteiorganen zwischen tschechischen und slowakischen kommunistischen Vertretern.

Als "Notbremse" wurde KPdSU-Führer Leonid Breschnjew nach Prag gerufen. Dieser mochte jedoch den amtierenden tschechoslowakischen Partei- und Staatschef Antonín Novotny gar nicht: Schließlich war der kommunistische Dogmatiker in Prag ein treuer Gefolgsmann Chruschtschows gewesen. Novotny hatte sich geweigert, dessen Sturz zu begrüßen und Ende der 50er Jahre sogar die Stationierung sowjetischer Truppen abgelehnt. Und so wurde der Amtsinhaber gestürzt und am 5. Januar 1968 an seiner Stelle der slowakische KP-Vorsitzende Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär gewählt. Dieser galt als völlig unfähig und hatte deshalb keine Feinde. In seinem Politbüro blieben die "Dogmatiker" klar in der Mehrheit.

Trotzdem begeisterte der Machtwechsel die Bevölkerung, die bereits den Hauch der Freiheit spürte, die sie so sehr ersehnte. Die Politik der Dubcek-Führung geriet danach zu einem Drahtseilakt zwischen den Wünschen des Volkes und der Parteidoktrin. Und doch: Die Pressezensur existierte nur mehr auf dem Papier; es eröffnete sich ein Raum für (zuerst freilich noch zahme) Kritik.

Die äußerste ideologische Grenze, bis zu der Dubcek und andere "progressive" Politiker zu gehen bereit waren, ähnelte sehr der später in der KGB-Zentrale entworfenen "Perestrojka" Gorbatschows, also: keine Opposition, keine freien Wahlen, keine breit angelegte Privatisierung – ein "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" auf der Basis der "führenden Rolle der Partei".

Im Mai 1968 wurden bereits Flugblätter gegen "antisozialistische Kräfte" verbreitet, und am 12.5. erklärte der russische General Schukow in der Leitmeritzer Kaserne: "Die guten Kommunisten brauchen keine Angst zu haben. Ein Anruf genügt, und die gesamte Sowjetarmee wird gemeinsam mit den befreundeten Armeen zur Verfügung stehen!" Dubcek reagierte auf die Drohungen auf eine für ihn typische Art: Am 29. Mai eiferte er im ZK-Plenum gegen "antikommunistische Tendenzen" und warnte vor den "Resten der Bourgeoisie und ihrer Demokratie".

Das Schicksal der von Anfang an zum Scheitern verurteilten Reformbewegung wurde bereits Mitte Juni 1968 besiegelt. Vom Oberkommando des Warschauer Paktes erhielt die tschechoslowakische Armee den Befehl, "die westliche Grenze der CSSR dicht zu besetzen und damit die CSSR und das ganze sozialistische Lager gegen die drohende Invasion der Bundeswehr und der in Deutschland stationierten NATO-Truppen zu schützen". Die Tschechoslowakei verfügte damals über zwölf gut ausgerüstete und kampfbereite Divisionen. Mehrere Mitarbeiter Dubceks – unter ihnen General Václav Prychlík (Mitglied des ZK der KPTsch) – warnten vor der Ausführung des Befehls und verstanden ihn als Vorbereitung einer militärischen Invasion. Aber der Staatschef wiegelte ab: "Wie könnt ihr unsere sowjetischen Genossen so verdächtigen – wir werden diesen Befehl ausführen und unsere Treue beweisen!" Ende Juni sah sich General Prchlík, der als Freund Dubceks galt, seines Postens enthoben. Elf Divisionen wurden in der Nähe der bayerischen Grenze stationiert, die zwölfte stand befehlsgemäß unweit von Iglau in der "strategischen Reserve gegen Österreich".

Nachdem ich den Inhalt des Befehls erfahren hatte, schrieb ich sofort einen geharnischten Brief an den sowjetischen Botschafter Tscherwonenko und drohte diesem den entschiedenen Widerstand des gesamten "Hussittenvolkes" an. Der Text des Schreibens konnte noch im März 1969 in der Wochenzeitung Mlady svet (Junge Welt) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zu diesem Zeitpunkt existierte die Zensur zwar wieder, aber die meisten Journalisten ignorierten sie noch. Doch die Unfreiheit verbreitete sich schnell: Drei Zeitungen, mit denen ich zusammengearbeitet hatte, wurden im April 1969 eingestellt, genau in jener Phase, in der Dubcek sein Amt an Husák abtreten mußte.

In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 waren etwa 250.000 Rotarmisten in die CSSR einmarschiert. Dubcek nahm die Nachricht von der Intervention weinend auf, wollte sich aber nicht verstecken, sondern mit politischen Schritten reagieren. Doch schon kurz danach wurde er samt seiner Mitarbeiter nach Moskau gebracht. Am 26.8. setzten dort alle tschechischen Helfershelfer der Sowjetmacht – mit Ausnahme meines Freundes Frantisek Kriegel (dem man als einzigem die Todesstrafe androhte) – ihre Unterschrift unter das unwürdige Kapitulationsabkommen. Sie taten es in dem Wissen, daß der unbewaffnete Widerstand in der Heimat die UdSSR sehr wohl zur Änderung ihrer Pläne zwingen konnte.

Es handelte sich hier um einen Akt des Landesverrats. Diese Meinung vertrat nach meiner entsprechenden Strafanzeige gegen die Verantwortlichen aus dem Jahre 1991 auch die Prager Generalstaatsanwaltschaft. Das Ermittlungsverfahren wurde jedoch nach meinen zwei Aussagen mit der Feststellung eingestellt, daß diese Tat verjährt sei.

Die Tschechoslowakei hat in ihrer kurzen Geschichte zweimal kampflos kapituliert. 1938 wurde so eine reale Chance vertan, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern: Eine Gruppe in der Wehrmachtsführung wollte auf den Beginn der Kampfhandlungen mit einem Attentat auf Hitler reagieren. Und im Januar 1969 erfuhren wir, daß die Entscheidung des Moskauer Politbüros mit einer knappen Mehrheit von 5:3 Voten nur deshalb zustande gekommen war, weil man sichergestellt hatte, daß von tschechischer Seite kein Schuß fallen würde.

Wiederholte Kapitulationen führen zur geistig-moralischen Erkrankung einer Nation. Die tschechische Nation macht hier keine Ausnahme: Nach der "Samtenen Revolution" im November 1989 wurde der Chefkapitulant Alexander Dubcek noch einmal Parlamentspräsident, und der erste Ministerpräsident "nach der Wende" war bis Anfang 1990 das KP-Mitglied Calfa. Der kürzlich neu ernannte tschechische Außenminister Jan Kavan wird mit guten Argumenten von fast allen früheren Dissidenten als Stasi-Mitarbeiter bezeichnet. Nicht zuletzt erinnert der auch im heutigen Tschechien noch virulente Chauvinismus, der sich vor allem gegen die Sudetendeutschen richtet, an die Zeit der kommunistischen Ära, mit der zwei Sieger der letzten Parlamentswahlen nicht gerade verfeindet waren.


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