© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
USA: Die Atombombe auf Nagasaki. Eine bislang unbekannte Episode
Ein Whiskey - oder zwei
von Will Tremper

Wie oft ist mein Freund Jim von Berliner Funkstreifen durch den Tiergarten gejagt und verhaftet worden! Ein Mann, der Nacht für Nacht mit einer Leiter bewaffnet durch die Büsche schleicht, ist ja auch verdächtig. Wer sollte ihm glauben, daß er nur ein "birdwatcher" war, ein Amateur-Ornithologe, ein Freund der Vögel. Jim O’Donnell war nicht nur einer der besten Deutschlandkenner unter den amerikanischen Korrespondenten, er kannte auch Berlin und seine Vogelwelt besser als jeder deutsche Zeitungsmann. Der Mensch hatte eine Nase für unglaubliche Geschichten, die er überall, wo ihn seine Zeitungen hinschickten, todsicher aufzuspüren verstand.

Bei einer Gelegenheit zeigte er mir an der Moorlake die Nester ostpreußscher Nebelkrähen, die auf der Flucht vor sowjetischem Kanonendonner im Winter 1944/45 auf den Berliner Havelseen eine neue Heimat gefunden hatten – bis sie im Mai 1945, während des Endkampfes um Berlin, "völlig neurotisch wurden", wie Jim behauptete. Ich hörte ihn mit diesen Krähen englisch sprechen – und ihre aufgeregten Antworten. "Sie wollen nach Ostpreußen zurück", übersetzte Jim.

Das war 1963, und als ich zwei Jahre später wieder an die Moorlake kam und einem interessierten Menschen die ostpreußischen Nebelkrähen zeigen wollte, fanden wir keine mehr. Es war Sommer, und sie hätten eigentlich zu Hause sein müssen. Vielleicht sind sie an die Masurischen Seen zurückgekehrt, dort herrscht ja wieder Ruhe. – In den achtziger Jahren wurde Jim, der mindestens 30 von 45 Nachkriegsjahren in der geteilten Stadt verbracht hat, Professor für Zeitgeschichte am Communications-College der Boston University.

Und dann wollte ich ja unbedingt auch noch die Geschichte erzählen, die Jim O’Donnell in den sechziger Jahren aus Paris mitbrachte. Sie ist so ungeheuerlich, daß sie schon wieder wahr sein könnte. Mein Birdwatcher hatte den Wecker auf 5 Uhr gestellt und befand sich um halb sechs schon am Eingang des Bois de Boulogne, um die Lage der französischen Vögel zu überprüfen.

Wie er durch den Pariser Stadtwald schreitet, den Kopf im Nacken, übersieht er beinahe einen anderen frühen Spaziergänger, aber nur beinahe. Beim zweiten Hinsehen reißt es ihn förmlich aus den Schuhen: Diese Gestalt in einem – wie immer – zu knappen Zweireiher mit einem Strohhut auf dem Kopf, der goldgeränderten Brille und dem aggressiv geschwungenen Ahorn-Spazierstock, das kann doch nur Harry S. Truman gewesen sein, Ex-Präsident der Vereinigten Staaten, ein bekannter Frühaufsteher und fanatischer Spaziergänger!

Weil Jim einen Bruder hat, der während des Zweiten Weltkrieges im Stab des damaligen Vizepräsidenten arbeitete, traut er sich, den Hut zu ziehen und Truman anzusprechen.

"O’Donnell!" ruft der. "What the hell are you doing here?" Das gleiche fragt ihn Jim. Ein Wort gibt das andere, Hände werden geschüttelt und schon spazieren die beiden Amerikaner, in Washingtoner Erinnerungen kramend, zusammen durch den Bois de Boulogne. Der Ex-Präsident ist, sieben Jahre nach seiner zweiten Amtszeit, auf Europa-Urlaub und benötigt noch keine Sicherheitsbeamten wie alle seine Nachfolger. Jim zeigt Truman die verschiedenen französischen Vögel, die er anhand des Gezwitschers auseinanderhalten kann, der lacht und stellt tausend Fragen, und schließlich faßt sich Jim ein Herz und fragt den Ex-Präsidenten, ob er ihm eine Frage stellen darf.

Trumans Reaktion ist verblüffend: Er springt, wie von der bekannten Tarantel gestochen zur Seite, hebt drohend den Spazierstock und ruft: "Goddammit! Nicht schon wieder! Jeder, der mich eine Minute allein hat, versucht mich in eine Ecke zu drängen und mir diese verdammte Frage zu stellen!"

Jim war so erschrocken, sagt er, daß er mit beiden Händen abwinkte: "Forget it, please forget it, Mr. President!" Aber Truman schimpfte weiter: "Sie wollen mich doch, wie all die anderen Esel, fragen, warum ich den Befehl zum Abwurf der Atombombe gegeben habe!?" Das nun erleichterte Jims Gewissen beträchtlich: "Aber nein, aber wirklich nicht!" rief er strahlend. "Ich wollte Sie lediglich fragen, warum Sie auch noch den Befehl zum Abwurf der zweiten Atombombe gegeben haben, Mr.
President!"

Schlimmer, meinte Jim, hätte es nicht kommen können. Harry S. Truman verlor vollkommen die Fassung und begann auf seinen Begleiter zu fluchen, daß die Vögel erschrocken verstummten. "Das ist ja noch unverschämter – oh, mein Gott, wäre ich bloß nicht allein in den Wald gegangen!" – Aber nichts, sagte Jim, beruhigt mehr als Vogelgezwitscher. Und als die wieder zu singen anfingen, verstummte der wütend voranschreitende Ex-Präsident, marschierte noch ein paar Minuten weiter und blieb endlich stehen, faßte Jim beim Portepee und sprach düster: "Versprechen Sie mir, daß Sie mit niemandem darüber reden, bevor ich tot bin, O’Donnell?"

Jim versprach es beim Augenlicht seiner Mutter, die längst im Himmel war, und Harry S. Truman begann, im Vertrauen auf Jims Bruder, den er als guten Mann in Erinnerung hatte, eine unglaubliche Geschichte zu erzählen: "Auch Präsidenten sind nur Menschen, O’Donnell … Wissen Sie überhaupt, wo ich damals war?" Jim überlegte. "In Potsdam? Auf der Konferenz…?"

"Nicht mehr!" rief Truman. "Schon längst nicht mehr! Ich bin doch gleich abgereist, als Churchill durch seinen traurigen Nachfolger Attlee ersetzt wurde! Ich bin von Berlin nach Cherbourg geflogen und sofort an Bord unseres leichten Kreuzers ‘S.S. Augusta’ gegangen!… Die erste Atombombe war ja schon während der Konferenz auf Hiroshima gefallen, und ich hatte nur noch eines im Sinn: So schnell wie möglich nach Hause zurück! Ich konnte auch dieses Gesicht von dem Stalin nicht mehr ertragen!"

Darum, so Truman habe er sich auch, entgegen dem Rat seiner Ärzte, am ersten Abend an Bord des Kreuzers einen Whiskey genehmigt, vielleicht auch zwei – und am nächsten Morgen, als er mit einem dicken Kopf an Deck lag, bitter bereut. Und da sei der Funkoffizier des Schiffes zu ihm an den Liegestuhl getreten und habe ihn gefragt, ob er den Code des Weißen Hauses haben dürfe, um ein soeben aufgefangenes Telegramm des Generalstabschefs George C. Marshall an den Präsidenten zu entschlüsseln.

"Ich habe mir den Funkspruch zeigen lassen und nichts als eine lange Zahlenkolonne gelesen. Und weil mir der Kopf so brummte, habe ich einfach an den Rand geschrieben: ‘Whatever you want, George!’ – Und der Funkoffizier hat das an die Joint Chiefs of Staff zurückgeschickt… Es war die Bitte um Genehmigung für eine zweite Bombe gewesen…"

Jim sagt, ihm sei erst schlecht geworden, als er wieder im Hotel war. "That’s politics, isn’t it?" oder "Auch Präsidenten sind nur Menschen." – Die ein Glas zuviel trinken, und die zweite Bombe auf Nagasaki tötet noch einmal 150.000.

Doch wenn ich jetzt noch einmal lese, was Jim mir damals erzählt hat, glaube ich es nicht mehr. Ich will es einfach nicht glauben. Schließlich war ein zweiter Abwurf ja immer geplant. Und in den Memoiren Trumans steht es ja auch ganz anders. Viel allgemeiner gehalten.


 
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