© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Neue Politik: Die Aufgaben, Leitbilder, und Tugenden einer kommenden "Generation Berlin"
Realistisch, hart und apollinisch
von Karl Heinz Weissmann

Vor zwei Jahren wurde in Frankreich ein Buch von Alfred de Tarde und Henri Massis neu aufgelegt. Es trägt den Titel "Les jeunes gens d’aujourd’hui", erschien zuerst 1912 und enthält eine der ersten Analysen demoskopischer Erhebungen. Die dort dargestellte Befindlichkeit der "jungen Männer von heute" beruhte nämlich auf der Umfrage einer Pariser Tageszeitung. Massis und de Tarde faßten die Ergebnisse zusammen. Die junge Generation unterscheide sich von der älteren durch ihren Patrioismus, der an die Stelle des Kosmopolitismus getreten sei, durch ihre Ablehnung des Liberalismus und der Nivellierung, durch ihr elitäres Selbstverständnis, ihre Vorbehalte gegenüber der Intellektualität, ihre Begeisterung für den Sport und den Rausch der Geschwindigkeit, den Flugzeug und Auto vermittelten, durch die Bereitschaft, in jüngeren Jahren zu heiraten und mehr Kinder großzuziehen, ihre Entschlossenheit, die Stimmung der Dekandenz zu überwinden und ihren Hunger nach Absolutem zu stillen.

Massis und de Tarde waren keine neutralen Beobachter, sie begrüßten das Neue, obwohl sie aus Elternhäusern stammten, in denen die Erziehung das kaum nahegelegt hatte. Ihre Väter gehörten zu den Stützen der Dritten Republik und verkörperten deren Geist: agnostisch, positivistisch, überzeugt, daß Aufklärung und Wissenschaft den Fortschritt des Menschengeschlechts vollenden würden.

Achtundsechziger lösten skeptische Generation ab

Ein Generationswechsel vollzieht sich für gewöhnlich in der Stille, mehr noch, das Bewußtsein von der Einheit einer Generation ist eher die Ausnahme als die Regel, es kommt praktisch immer nur dann zum Tragen, wenn der Generationenwechsel mit einem Generationenkonflikt zusammenhängt. Ein solcher Konflikt fand in Deutschland zuletzt Ende der sechziger Jahre statt mit der Auseinandersetzung zwischen der "skeptischen Generation" (Helmut Schelsky) und den "Achtundsechzigern".

Daß auf die vollständige Durchsetzung der Achtundsechziger, die Kapitulation oder Anpassung der Gegenseite, bisher kein neuer Generationenkampf folgte, führt gelegentlich zu Irritationen. Doch "Achtundsiebziger" hat es nicht gegeben und konnte es nicht geben, weil die Bewegung aufgrund der Altersstruktur kaum den Höhepunkt ihrer Entfaltung erreicht hatte, gerade erst dabei wat, die letzten Widerstände zu beseitigen, ihre Inhalte und ihren Stil allgemein durchzusetzen. Erst Mauerfall und Wiedervereinigung boten die Möglichkeit der Infragestellung. Feuilletons diskutierten über das Phänomen der "Neunundachtziger". Aber Furcht und Erwartung wurden gleichermaßen enttäuscht: Ein Generationenkonflikt läßt sich nicht kommandieren, hängt nicht nur ab von der objektiven Lage und anstehenden Verteilungskämpfen, sondern vom Wandel der Mentalität.

Mentalität ist ein schwieriger Begriff. Vor einigen Jahren in Mode gekommen, hat man ihn doch bald wieder außer Kurs gesetzt. Dabei bezeichnet er unter Hinnahme einer kaum vermeidbaren Schärfe den kollektiven Habitus, das Gesamt von politischen und kulturellen Prioritäten, "Werten", der sich noch im Benehmen, der Mode und den Eßgewohnheiten ausdrückt. Mentalität ist eine "Atmosphäre" oder eine "Haut" (Theodor Geiger), fast unmerklich vorhanden, erst mit der Veränderung spürbar.

Und eine solche Veränderung, ein Mentalitätswandel hatte 1989 nicht stattgefunden. Die tonangebenden Kreise waren nur für den Augenblick verstört, es gab keine Dissidenz in ihren Reihen und keine Opposition gegen das Establishment, die mit der notwendigen moralischen Empörung Sturm laufen wollte; es fehlte der Elan, das gute Gewissen, wenn man so will: die Vergeßlichkeit und die Naivität, die immer am Ursprung einer neuen Mentalität zu finden ist.

Auflehnung gegen die allgemeine Verschlampung

Das scheint sich zu ändern, was einerseits mit dem zunehmenden Lebensalter der "Achtundsechziger" zusammenhängt – sie sind nicht mehr die "schöneren Menschen" (Ulrich Hintze), die sie so lange Zeit samt der Jugendlichkeit und der Kopie mediterraner Lässigkeit geben konnten –, andererseits auf ihren Erfolg zurückgeht; denn Macht macht häßlich, lockt jedenfalls irgendwann die oppsitionellen Geister zum Widerspruch. Wichtiger scheint aber noch, daß heute die Folgen ihres Tuns so unübersehbar geworden sind.

Wahrscheinlich wird die Auflehnung nicht wegen der Verharmlosung des Kommunismus und des Schönredens der DDR folgen, sondern wegen der allgemeinen Verschlampung und Formlosigkeit und der Folgen, die die "Libido-Revolution" (Peter Schneider) hatte. Die Beunruhigung über das Wegbrechen der moralischen Dämme, die deutlicher einsetzende Debatte zum Zusammenhang von sexueller Befreiung und Perversion ist im Grunde schon ein Indiz für die tektonische Verschiebung unter der Weltanschauungslandschaft. Es ist erstaunlich, welche Massive da bereits abgetragen wurden und welche Positionen ganz verschwunden sind: die Behauptung, daß der Pazifismus eine politische Option sein kann, die Behauptung, daß die Teilung Europas den Frieden stabilisiere, die Behauptung, daß (irgendeine Form von) Sozialismus doch die überlegene Wirtschaftsordnung darstelle, die Behauptung, daß der Verfall der inneren Sicherheit nur auf das hysterische Geschrei älterer Damen zurückzuführen sei, daß die Resozialisierung in jedem Fall den Vorrang vor der Bestrafung des Verbrechers haben müsse, daß jede Zuwanderung eine Bereicherung unseres Kulturlebens darstelle, daß es in der Schule vor allem auf die Motivation und nicht auf die Leistung ankomme. Was sich im gegenwärtigen Wahlkampf abspielt, ist insofern nur ein Vorgeschmack dessen, was uns noch erwartet. Praktisch jede These, die eben noch als "faschistisch" oder "rechtsextremistisch" bezeichnet wurde, wird plötzlich als durchaus diskutabel betrachtet werden.

Wer glaubt, daß in diesem veränderten Vorgehen die Klugheit und Gewandtheit der Achtundsechziger deutlich werde, befindet sich aber im Irrtum. Es handelt sich eher um Irritation und Anpassungsversuche im Blick auf eine rapide gewandelte Realität, ohne daß man doch über Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügt, die die neue Realität verlangt. Im entscheidenden Fall, dem Ernstfall, wird es in ihren Reihen keinen geben, der den Herausforderungen gewachsen ist, der tun kann, was die Lage fordert. Für eine Übergangszeit stehen uns mehr oder weniger gelungene Simulationen entschlossenen Handelns bevor; wer in einem sozialdemokratisch regierten Bundesland lebt, kann sich jederzeit einen Eindruck von solchen Vor-Täuschungen machen.

Diese Analyse soll nicht als Prognose mißverstanden werden. Der Wandel wird nicht kommen, weil er kommen muß, aber es spricht manches dafür, daß er kommen wird. Der Soziologe Heinz Bude schrieb über die Aufgabe einer "Generation Berlin", die weder den skeptischen Gestus der Flakhelfer-Generation noch den kritischen Gestus der Achtundsechziger für ausreichend halten werde: "Die Angehörigen der Achtundsechziger-Generation, die im Gefolge von Gerhard Schröder in allen Parteien ihre große zweite Chance wittern, werden die Arena besetzen. Aber die Leitbilder des neuen Deutschland werden sie nicht mehr prägen." Wer diese Leitbilder bestimmt, ist kaum ausgemacht. Von links oder aus der Mitte der "Staatsfeinde" (Jan Roß) bleibt wenig zu erwarten. Wenn es eine "Generation Berlin" geben sollte, dann wird die sich wohl neu orientieren müssen, will sie ihre Aufgaben bewältigen; dann muß sie sich Tugenden aneignen, die seit langem systematisch in Mißkredit gebracht wurden: muß realistischer und idealistischer, härter und "apollinischer" sein als ihre Vorgänger, das Wesen des Ganzen begreifen und verteidigen gegen seine Verächter und falschen Freunde.

Rechte Thesen sind plötzlich diskutabel

Was das heißen und wie sich die Veränderung andeuten könnte, zeigt eine Studie, die unlängst über die politische Haltung des Offiziersnachwuchses angefertigt wurde. Das – mit gebührendem Entsetzen – zur Kenntnis gebrachte Ergebnis lautet: 75 Prozent der Studenten an den Bundeswehrhochschulen betrachten sich als "konservativ", 21 Prozent sogar als "nationalkonservativ", linke und linksradikale Positionen, die an zivilen Universitäten klar überwiegen, sind schwach oder völlig marginalisiert. Es bleibt erstaunlich, daß sich in einer Institution, über die in der Vergangenheit alle Attacken des Zeitgeistes hinweggeganegn sind, soviel gesunde Substanz erhalten konnte, und erfreulich, daß soviel Unverfrorenheit schon wieder möglich ist.

Der Befund erinnert auch an ein Detail, das im Zusammenhang mit dem eingangs erwähnten Buch von Massis und de Tarde steht. Einer aus der jungen Generation von 1912, Ernest Psichari, ein Enkel des großen Renan, beendete nach Jahren der Herumtreiberei und des Dandytums sein haltloses Leben. Er trat zum Entsetzen seiner Familie freiwillig in die Amee ein und ging in die Kolonien. Seine innere Wandlung beschrieb er in mehreren Büchern, die in der Vorkriegszeit hohe Auflagen erreichten. Dabei bildete für Psichari der Dienst für die Nation vor allem den Versuch, einen festen Punkt in der allgemeinen Auflösung zu finden, wohl wissend, daß er damit das letzte durch ein vorletztes zu ersetzen suchte; erst spät fand er zum Glauben seiner Väter zurück und trat Ostern 1914 in das Priesterseminar von Issy ein. Der Weg wurde ihm abgeschnitten durch den Beginn des Krieges, am 22. August 1914 fiel Psichari in Flandern; zu seinem Vermächtnis gehören die Sätze: "Eine oder zwei Generationen können Gottes Gesetz vergessen und sich aller Treulosigkeiten und Undankbarkeiten schuldig machen, aber es kommt die Zeit, wo man sich der Vergangenheit wieder erinnert und die kleine, flackernde Flamme im Haus wieder anzündet."


 
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