© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Patriotisches Panorama: Absurde Konstellationen und die Macht der Persönlichkeiten
Jelzin braucht neue Feindbilder
von Jurij Archipow

Der Kommunismus will und will nicht verrecken. Das Marxsche Gespenst, ohne das es keinen Lenin (aber auch keinen Hitler) gegeben hätte, erweist sich in unserem Jahrhundert als übernatürlich zählebig. Wäre dem nicht so, hätte es an seinem Ende auch keinen Jelzin gegeben – denn die letzten Wahlen in Rußland hat dieser nur deshalb gewinnen können, weil er mit dem verfluchten Popanz zu drohen wußte nach dem Motto: "Entweder ich oder die Kommunisten!"

Heute rückt Boris Jelzin eine neue Parole in den Vordergrund: "Entweder ich oder die Faschisten!" Zu den "Faschisten" werden dabei pauschal alle national-etatistischen politischen Richtungen gezählt, einschließlich der Kommunisten, zumal deren Führer Sjuganow als großer "Nationalist" gilt. Und damit sind wir schon mitten im russischen Wirrwarr der Begriffe. Wer sich in der übrigen Welt zum Kommunismus bekennt, der meint vor allem den Klassenkampf, also die Zerstörung des Nationalen. In Rußland dagegen behaupten die Kommunisten, die einzigen Verteidiger der nationalen Interessen zu sein. In dem von ihnen gegründeten "Volkspatriotischen Bund" haben sie zwar auch ihre ewigen Feinde, nämlich erklärte Nationalisten, zugelassen, doch wird wohl zu Recht vermutet, daß es hierbei nur um ein taktisches Manöver im Kampf um die Macht geht. Die rote Skrupellosigkeit ist ja im politischen Theater schon längst zu einer weltbekannten Maske geworden.

Neben der kommunistischen Fraktion zählen in der Staatsduma noch die "Liberaldemokraten" mit dem berüchtigten Schirinowskij an der Spitze zu den ausgesprochenen "Nationalisten". Jedoch ist hier nicht nur der Parteiname irreführend: Die Provokateure Schirinowskijs haben weder mit dem Liberalismus noch mit der Demokratie irgend etwas zu tun, mit den "nationalen Interessen" dagegen schon eher, aber auf welche Art, das bleibt fraglich. Es ist allgemein bekannt, daß Wladimir Schirinowskij seinerzeit an der Spitze der zionistischen Bewegung in Moskau gestanden hatte und bereits auf gepackten Koffern saß, als seitens des KGB die Aufforderung kam, fortan die russische nationale Bewegung zu bespitzeln. In der neuen Situation vermochte der "Sohn eines Juristen" seine Beziehungen zu den Machthabern als gut gehenden "Business" aufzubauen.

Die Zeiten des Gauklers Schirinowskij sind vorbei

Es ist in Moskau längst kein Geheimnis mehr, daß Schirinowskij für das regierungsfreundliche Abstimmungsverhalten seiner Fraktion bei wichtigen Dumaentscheidungen immer wieder gut "geschmiert" wird. Mittlerweile sind in Rußland die Zeiten allerdings deutlich schwerer geworden, und solche Gaukler wie Schirinowskij können höchstens noch mit zwei bis drei Prozent Wählerunterstützung rechnen. Analytiker meinen, daß die anderen 20 Prozent, die die Liberaldemokraten vor fünf Jahren noch auf sich vereinigen konnten (damals vertrat die Partei die gesamte nicht verbotene Opposition), nun an General Alexander Lebed fallen. Dieser versteht durchaus auch was von Scherzen und Späßchen, aber anders als bei Schirinowskij ist bei ihm auch viel Echtes, Urwüchsiges zu spüren – vor allem eine ernste Sorge um die Zukunft des Landes sowie eine "eiserne Hand".

Kleinere in der Duma vertretene Fraktionen wie beispielsweise die "Volkseintracht" um den letzten amtierenden sowjetischen Ministerpräsidenten Ryschkow, die "Agrarier" oder auch der von Baburin angeführte "Volksbund" sind zu klein, um eine selbständige politische Rolle beanspruchen zu können. Die radikaleren national gesinnten oder sich als "national" etikettierenden politischen Kräfte befinden sich derzeit – noch – außerhalb der Duma. Die bekannteste rechtsstehende dieser Gruppierungen ist die "Russische Nationale Einheit" mit dem "Führer" Barkaschow an der Spitze. Die namhafteste Linksauslegerin innerhalb dieses Spektrums ist die "National-Bolschewistische Partei", in der die Führungsrolle dem Schriftsteller Limonow zukommt, der auch der Parteizeitung ihren Namen gibt: Limonka (ein umgangssprachlicher russischer Ausdruck für "Handgranate"). Das Programm kreist um die These von der "permanenten Revolution" als Grundlage ewiger nationaler Erneuerung. Wie schon bei den gemäßigten Kommunisten ist bei den "Limonowzy" die Zusammensetzung aus "national" und "kommunistisch/bolschewistisch" ein typisch russisches Absurdum, ein "abrakadabra", wie man das im Russischen mit einen spanischen Lehnwort auszudrücken pflegt.

Merkwürdig ist auch, daß sich beide Pole, die "Barkaschowzy" wie die "Limonowzy", zum Neuheidentum und zum Okkultismus bekennen. Als Hauptideologe der Neubolschewisten gilt Alexander Dugin, der bekannteste Historiker der okkulten Lehren (auch jener, die im Dritten Reich eine Rolle gespielt haben). Ansonsten setzen die beiden polaren radikalen Strömungen allerdings entgegengesetzte Akzente: Während die Nationalbolschewisten für Meutereien sorgen, verstehen sich die Anhänger Barkaschows als Vertreter der öffentlichen Ordnung. Letztere sieht man in den Provinzstädten häufig schwarz uniformiert und mit dem uralten Symbol des Sonnenrades als Abzeichen die örtliche Miliz im Kampf gegen die wachsende Kriminalität unterstützen – eine Auseinandersetzung, in der die staatlichen Organe oft vollkommen hilflos dastehen. Die dem Innenministerium unterstehende Miliz wiederum weiß diese Hilfe zu schätzen. Andererseits werden Proteste der "Barkaschowzy" gegen die zahlreichen Verleumdungen in der – überwiegend liberalen – russischen Presse, in denen sie ausschließlich als "Nazis" bezeichnet werden, von den Gerichten immer wieder abgewiesen.

Ein Ruch des Geheimnisvollen umgibt die Partei "Russische Nationale Gemeinschaft (Sobor)". Mit Recht, denn diese Formation wurde bekanntermaßen von ehemaligen KGB-Generälen gegründet. Von den Aktivitäten und Zielen dieser Partei weiß man wenig, und dennoch ist ihre Präsenz zumindest in den Medien ständig zu spüren.

Rechtspartei bekämpft die ausufernde Kriminalität

Im Zentrum der nationalkonservativen Parteienpalette befinden sich einige christliche Gruppierungen, manche demokratisch, andere monarchistisch orientiert, sowie der 1991 gegründete "Kongreß der Russischen Gemeinden", dem nur wenige Stimmen fehlten, um in die Duma einzuziehen. Gegründet als eine öffentliche Vereinigung, die den Millionen russischer Flüchtlinge aus den früheren Sowjetrepubliken sowie den im "nahen Ausland" verbliebenen Russen Hilfe leisten sollte, entwickelte sich der Kongreß zu einer besonders bei den patriotisch gesinnten Intellektuellen recht populären Partei, die (wie vielleicht außerdem noch die Gruppe um Baburin in der Duma) am konsequentesten ihre ideelle Herkunft aus dem klassischen Konservatismus des vorigen Jahrhunderts betont und pflegt.

Zu dieser Partei gehörte eine Zeitlang auch General Lebed, bis er für seinen "Verrat der nationalen Interessen im tschetschenischen Krieg" ausgeschlossen wurde. Seitdem sinkt auch die Zahl der Sympathisanten des Kongresses deutlich ab.

Es ist ganz allgemein kennzeichnend für Rußland, daß einzelne Persönlichkeiten viel mehr Gewicht und Einfluß haben als irgendwelche Parteien, Vereinigungen und Programme. Einzelne Politiker, besonders solche Patrioten vom Kaliber Lebeds oder auch dessen Rivale auf dem etatistischen Sektor, der Moskauer Bürgermeister Luschkow, werden "an sich" umjubelt, ganz egal zu welcher Partei sie gehören.

Einflußreiche patriotische Schriftsteller und Priester

Noch mehr politischen Einfluß haben populäre Persönlichkeiten aus dem Bereich der Kultur und der Kirche: Schriftsteller, Schauspieler, Filmregisseure, Priester. Besonders hervorzuheben sind die drei Autoren Solschenizyn, Rasputin und Prochanow. Während letzterer in seinem populären, der herrschenden Macht äußerst aggressiv gegenüberstehenden Blatt Sawtra (Morgen) die Rekonstruktion der sowjetischen Supermacht erstrebt, gedenkt Solschenizyn, die überlieferten, echt russischen Formen der Demokratie und Selbstverwaltung (von dem mittelalterlichen Nowgoroder Parlament "wetsche" bis zu den "semstwos" im vorigen Jahrhundert) fortzupflanzen. Rasputin wiederum sorgt sich mehr um die moralische Gesundheit des "verkommenen" Volkes und unterstützt den bekannten orthodoxen Priester Schargunow dabei, das "Komitee für die moralische Auferstehung Rußlands" zu führen.

Als besonders eifriger Verfechter der monarchistischen Idee entpuppte sich neben dem Bildhauer Klykow der berühmte Filmregisseur Nikita Michalkow ("Abschied von Matjora", "Urga"). "Orthodoxie, Monarchie, Volkstümlichkeit" sind in Michalkows Augen nach wie vor die drei Säulen, auf denen Rußland ruhen sollte, um der "verlogenen" französischen Dreieinigkeit widerstehen zu können.

Selbstverständlich neigt auch die russische Kirche im allgemeinen zur Monar-chie, obwohl sie die am häufigsten diskutierte Kandidatur des jungen Michael von Hohenzollern, der mütterlicherseits ein Romanow ist, aus verschiedenen Gründen als eher suspekt erachtet. Es gibt keine Zweifel daran, daß die Stimme der Kirche in solchen Fragen ausschlaggebend sein wird. Viele Indizien weisen darauf hin, daß Patriarch Alexej II. immer mächtiger wird und in der öffentlichen Meinung inzwischen viel mehr Achtung als Präsident Jelzin genießt. Auch im Streit um das Begräbnis der vermeintlichen Überreste der Zarenfamilie hielt es Boris Jelzin lange Zeit instinktiv für notwendig, sich dem kritischen Verhalten des Patriarchen unterzuordnen. Erst ganz kurz vor der Grablege in St. Petersburg am vergangenen Freitag fand er es angebracht, durch eigene Präsenz bei der Trauerfeier zu signalisieren, daß er auch noch da ist – wohl sehr zur Erleichterung seiner immer dünner und zunehmend unzufriedener werdenden Regierungsmannschaft.


 
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