© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Politik und Kultur: Otto von Habsburg über Regionen, Nationen und seine Idee von Europa
"Europa, das ist ein Lebensstil"
von Peter Krause

Herr von Habsburg, Sie sind ein Verfechter der Einheit Europas. Wie schätzen Sie den gegenwärtigen Vereinigungsprozeß ein?

HABSBURG: Es gibt natürlich Fehler auf dem Weg, aber die große Linie ist richtig. Für mich ist Europa nicht an erster Stelle eine Wirtschaftsgemeinschaft, sondern eine Sicherheitsgemeinschaft. Und da wir in einer sehr gefährlichen und unübersichtlichen Zeit leben, müssen wir uns darüber im klaren sein, daß die erste Frage die sein muß: Wie garantieren wir die Sicherheit unserer Völker? Je weiter wir die Grenzen der Freiheit in Richtung Osten verschieben, um so größer wird die Sicherheit der Mitte und des Westens sein.

Sie sehen also Ihre Idee Europas nicht vom Ökonomischen erdrückt?

HABSBURG: Gott sei Dank wird mit der Währungsunion ein gewisser Schlußpunkt unter die Wirtschaftsunion gesetzt, und jetzt können wir die anderen Sachen angehen. Ich bin sehr froh, daß mittlerweile die Politik und besonders die Sicherheitspolitik in den Mittelpunkt gerückt ist, und die Wirtschaft den Vereinigungsprozeß nicht mehr dominiert.

Nun gibt es aber jenseits des Politischen und Wirtschaftlichen eine Idee von Europa, die sich spätestens in der Romantik um 1800 formuliert findet: es ist die Vorstellung von einer abendländischen Kultur. Hat der aktuelle Vereinigungsprozeß diese Idee vergessen?

HABSBURG: Wenn das Wirtschaftliche und Finanzielle so überbetont werden wie bisher, dann muß man sich schon Gedanken um die europäische Idee machen. Ich glaube aber, daß wir, nachdem das wirtschaftliche Kapitel abgeschlossen ist, nunmehr einen Neubeginn machen können, bei dem Politik und Kultur im Zentrum der Überlegungen stehen werden. Die Idee eines politisch vereinigten und christlichen europäischen Reiches geht schon auf Karl den Großen zurück. Wir haben jetzt die Möglichkeit, diese Idee zu verwirklichen. Als Spanien der EU beitrat, ist die katalanische Delegation nicht zuerst nach Brüssel oder Straßburg, sondern zuerst nach Aachen gegangen, um Karl dem Großen zu melden, daß seine Katalanen wieder zur Gemeinschaft der europäischen Völker gehören.

Was bedeutet Europa für Sie?

HABSBURG: Europa, das ist für mich ein Lebensstil, und es ist die Vielfalt, die uns auszeichnet. Wir sind kein melting pot wie die USA, wir sind eine Einheit, die das Unterschiedliche bewahrt. Wir haben eine grandiose Geschichte hinter uns, die gemacht worden ist von den Völkern und immer die Unterschiedlichkeit der Völker zum Ausdruck gebracht hat. Wir haben jetzt die Möglichkeit, ein System zu schaffen, in dem die Vielfalt erhalten wird, aber wir gleichzeitig im wesentlichen eins sein werden.

Das klingt sehr schön, aber sieht die Realität nicht anders aus? Die Paneuropa-Union will, laut Bamberger Programm von 1996, gegen "die Herrschaft der Technokratie und die bürokratische Allmacht" kämpfen. Wird die Europäische Union nicht ein von Bürokraten beherrschtes zentralistisches Gebilde mit einer Einheitswährung als Rückgrat sein?

HABSBURG: Ich bin ein großer Anhänger des Subsidiaritätsprinzips, das heißt: die größere Einheit darf niemals eine Aufgabe übernehmen, die die kleine Einheit zufriedenstellend erfüllen kann. Ich habe in einem nun schon sehr langen politischen Leben die Erfahrung gemacht, daß eine Entscheidung dann gut ist, wenn diejenigen sie treffen, die direkt betroffen sind. Ich glaube, wir sind auf keinem schlechten Weg. Dezentralisierung, der Volksgruppen, des Volksgruppenrechtes, der Verteidigung einzelner Sprachen – das sind Elemente, die ganz entscheidend für uns sind.

Die Paneuropa-Bewegung – aus der viele Gründungsväter der Europäischen Union hervorgegangen sind: de Gaulle, Adenauer, Robert Schuman – versteht Europa als eine abendländische Wertegemeinschaft auf christlicher Basis. Was ist von dieser Europa-Idee geblieben?

HABSBURG: Sehr viel. Bei den Menschen ist sehr viel geblieben. Der Sinn für die Eigenheit unserer Kulturen etwa ist gewaltig. Es gibt da noch starke Wurzeln im Boden. Die Bodenständigkeit gehört zu Europa, und das schließt Entwicklung übrigens keineswegs aus. Die Paneuropa-Bewegung strebt ein christliches Europa an, das als geistige Führungskraft Vorbild für die Völker der Welt sein kann. Konservativ heißt zwar, nicht auf die Ideologie der Französischen Revolution eingeschworen zu sein, aber es hat nicht notwendig etwas mit reaktionär zu tun. Konservativ sein, heißt für mich, aus religiöser Überzeugung und der Erfahrung der Geschichte leben. Schon weil alles Irdische vergänglich ist, müssen wir uns nicht an veraltete Formen klammern. Das betrifft auch die Idee Europas.

Welche Zukunft haben die Nationalstaaten in Europa?

HABSBURG: Der europäische Patriotismus soll die nationalen Patriotismen ergänzen und krönen. Das Wort vom "Europa der Vaterländer" ist keine Floskel, es ist eine Realität. Die Vielfalt nämlich ist eine Realität, und sie wächst. Denken Sie etwa an die Regionen, an den Regionalismus. Wer hat früher an Katalanien gedacht? Es war faktisch verschwunden. Wir haben auch zunehmend neue regionale Zusammenschlüsse. Ich nenne Ihnen ein Besipiel: um die ungarische Stadt Györ, deutsch Raab, gruppieren sich Gebiete der Slowakei, des österreichischen Burgenlandes und Ungarns. Solche Regionalverbände werden die Staaten zwar nicht ersetzen, aber sie werden neue europäische Gemeinschaften bilden.

Das politische Europa wird also bestehen aus: nationalen und internationalen Regionen, Nationalstaaten, Europäischer Union?

HABSBURG: Ja! Europa soll nur die Sachen machen, die die Nationen und erst recht die Regionen nicht machen können in der heutigen Welt. Die Nation wird sich in dem vereinigten Europa, so wie es mir vorschwebt, nicht auflösen. Ich habe viel mehr Angst, daß sich die Nationen auflösen, wenn man weiter den Weg der Zentralisierung und der Nivellierung geht. Wenn man die Gemeinschaft, und das müssen wir jetzt versuchen, innerhalb des Rahmens der Vielfalt macht, wird im Gegenteil die Nation erhalten bleiben. Das Nationale ist ein wichtiges Element Europas.

Nicht nur in Europa, sondern weltweit vollzieht sich ein Prozeß der kulturellen Angleichung. Glauben Sie, daß Europa seine kulturelle Identität wahren kann?

HABSBURG: Absolut! Aber auch das hängt von unserem Engagement ab. Wenn sich einzelne oder Gruppen nicht dafür einsetzen, wird die Nivellierung nicht aufzuhalten sein. Die Globalisierung der Wirtschaft kommt auf uns zu, aber da wir das wissen, müssen wir solche Ereignisse lenken. Nehmen Sie die deutsche Sprache: Natürlich ist die deutsche Sprache heute gefährdet, vor allem wegen des großen Einflusses des Englischen in unseren Massenmedien. In Frankreich wehrt man sich dagegen; dort wird für die Erhaltung des Französischen erfolgreich gekämpft. Wir müssen uns genauso stark einsetzen für die Erhaltung des Deutschen, also weit mehr, als es zur Zeit der Fall ist.

Für wie demokratisch halten Sie den europäischen Einigungsprozeß? Täuscht der Eindruck, daß die Entwicklung eher von Börsen und Banken bestimmt wird als von Parlamenten?

HABSBURG: Es gibt eine Eigendynamik in der Entwicklung, der das Europäische Parlament oft nicht so schnell folgen kann. Aber die Zuständigkeiten des Parlamentes haben sich in den vergangenen zwanzig Jahren, die ich in Straßburg bin und die ich also beurteilen kann, immer mehr vergrößert. Und was sind zwanzig Jahre in der europäischen Geschichte? Wer den Parlamentarismus kennt, weiß, daß alles von unten erkämpft werden muß.

Welche sind die dringendsten Aufgaben der Paneuropa-Bewegung?

HABSBURG: Die Erweiterung! Europa muß so weit reichen, wie es Europäer gibt. Aber Rußland gehört gegenwärtig bestimmt nicht dazu. Rußland ist heute das letzte große Kolonialreich. Die Russen wissen selbst nicht, ob sie zu Europa oder Asien gehören. Und auch die Türkei gehört nicht in die Europäische Union. Die Türkei hat die wichtige Aufgabe, durch die Liquidierung des unsäglichen Erbes der Friedensverträge, die wir in diesem Jahrhundert hatten, wieder etwas zu schaffen, was die befreiten mittelasiatischen Gebiete der ehemaligen Sowjetunion zusammenfaßt. Auf dieser Grundlage können wir eine sehr starke Partnerschaft aufbauen.

 

Dr. Otto von Habsburg

wurde 1912 in Reichenau, Niederösterreich, als ältester Sohn von Erzherzog Karl von Österreich (später Kaiser Karl I.) und Prinzessin Zita von Bourbon-Parma (der späteren Kaiserin) geboren. Studium an der Universität Löwen, Belgien, 1935 Doktorat der politischen und sozialen Wissenschaften, 1939 Aufenthalt in Paris, 1940 bis 1944 in Washington, D. C., USA, 1942 Aktionen zur Verhinderung der geplanten Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten und dem Sudentenland, 1944 bis 1951 Aufenthalt in Frankreich und Spanien.

Otto von Habsburg lebt seit 1954 in Pöcking, Oberbayern. Er ist Mitglied der CSU und seit 1979 Abgeordneter in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP-CD) im Europäischen Parlament, dem er als Alterspräsident vorsteht.

Otto von Habsburg – der auf zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Geschichte, Politik und Sozialpolitik verweisen kann – ist seit 1973 Präsident der 1923 von Richard Coudenhove-Kalergi ins Leben gerufenen Internationalen Paneuropa-Bewegung. Ziel dieser Bewegung ist eine politische Vereinigung Europas als christliche Wertegemeinschaft, als Gemeinschaft der Freiheit, des Rechts und des Friedens.


 
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