© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Verlogene Existenz
von Peter Krause

Gregor Gysi ist vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe mit seiner Klage gescheitert; das Überprüfungsverfahren des Bundestages ist in seinen einzelnen Feststellungen rechtens gewesen. Vier der acht Richter des Zweiten Senats wollten aber nicht "inhaltlich" festschreiben, Gysi habe als Anwalt Mandanten an die Stasi verraten. Salomonisch? Die politischen Gegner sehen sich zwar zu Recht bestätigt darin, Gysi eine elfjährige Spitzeltätigkeit vorzuhalten, der aber verkauft die Niederlage frech als halben Sieg. Der PDS-Politiker will keinen Grund erkennen, sein Bundestagsmandat aufzugeben. Er ging in gewohnt sophistischer Manier in die Offensive, forderte höhnisch zur öffentlichen Diskussion auf. Denn so heikel ist die Sache nicht für ihn. Solange eindeutige Beweise fehlen, darf er darauf bauen, als Opfer einer Siegerjustiz sympathieträchig auftrumpfen zu können. Und selbst wenn Gysi der Tätigkeit als "Informeller Mitarbeiter" des MfS überführt werden würde, so muß es ihm nicht schaden; im Gegenteil. Es ist frappant, mit welcher demagogischen Schamlosigkeit Leute wie Gysi oder Stolpe ihre verlogenen Existenzen als typische "DDR-Biographien" verkaufen. Daß aber mit solcher Dreistigkeit (die jeder Faktizität widerspricht: "statistisch" spitzelte nur ein Prozent der DDR-Bevölkerung für die Staatssicherheit, wobei eine Ballung in Bereichen wie "Opposition", Kirchen, Kultur das Bild verzerren mag) im Osten der Republik überhaupt Sympathien zu gewinnen sind, zeigt die alten und vor allem neuen Ressentiments gegen den Westen, die zu seltsamsten Solidarisierungen führen.

Die causa Gysi und ihre öffentliche Wahrnehmung bietet Anlaß zu weitergehenden Überlegungen. So streng nämlich allzumenschliche "Irrtümer" der Politiker wie Sex-Affären oder Vetternwirtschaft geahndet werden (sie führen meist zu lästigen Pressekampagnen), so tolerant wird politischen Verfehlungen begegnet: Spitzelei, Wählerbetrug, gebrochenen Ehrenworten, offener Lüge. Daran hat sich das Volk, aus dessen Vernunft, aus dessen Wille alle gerechte Staatlichkeit fließt, wohl gewöhnt. Moderne Demokratie funktioniert nur, wenn man von aller absoluten Moral absieht. Immanuel Kant hatte die moderne Differenz zwischen einer Ethik mit ihren normativen Sittengesetzen und einer bürgerlichen Politik mit ihrer pragmatischen Moral gesehen. Sie aufheben zu wollen, führt in den Rigorismus, vielleicht in den mentalen Jakobinismus, manchmal in die bürgerrechtlerische Donquichotterie. Der spitzfindige Gysi spielt damit. Er weiß um den Stellenwert des Vergessens in der Politik, des Überdrusses, er kennt die Stimmungen seiner Klientel und die Bedürfnisse der Öffentlichkeit. Eben das macht den bedenkenlosen Gysi als Politiker so gefährlich.


 
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