© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Otto von Bismarck: Zum 100. Todestag eines konservativen Revolutionärs
Die mißratenen Enkel
von Hans B. von Sothen

Soll Revolution sein, so wollen wir sie lieber machen als erleiden." Das war nicht nur ein Bonmot Bismarcks, es war ihm bitter ernst. Mit diesem Wort hatte schon 1866 der spätere Reichsgründer den preußischen Altkonservativen den Fehdehandschuh hingeworfen. Der Historiker Lothar Gall ("Bismarck – Der weiße Revolutionär") meinte treffend: "Zu den großen Bewahrern der Geschichte kann man ihn schwerlich zählen. Diese vier Dezennien (1848–1890) waren Jahre eines stürmischen, oft atemberaubend raschen Wandels auf nahezu allen Gebieten. Wenn man sie im Licht einer der Lieblingsmaximen Bismarcks betrachtet, daß die Welle trägt, aber daß man sie nicht lenken kann, so wird man eher sagen müssen, daß er ein Mann der revolutionären Veränderung in der doppelsinnigen Bedeutung des Wortes gewesen ist…"

Aber er war ein nüchterner Revolutionär. Romantiker, auch konservative, verachtete er zutiefst. Schwärmer und politische Idealisten waren ihm zuwider. Er hielt sie nicht so sehr für kindisch, als vielmehr für gefährlich. Immer wieder ist man bei ihm an die preußische Klarheit eines Clausewitz erinnert, der meinte, daß die aus gutem Willen begangenen Fehler gerade die schlimmsten seien. Politik, das war für ihn die "Kunst des Möglichen", ein "System von Aushilfen". Man hat Bismarcks deshalb oft des Machiavellismus, des Zynismus und des politischen Desperadotums beschuldigt. Dabei hat er selbst immer wieder betont, daß sich das freilich nur auf die Mittel erstrecke, von einer Beliebigkeit der Ziele aber keineswegs die Rede sein könne. Dies hat den Realpolitiker Bismarck von den sogenannten Realpolitikern des späten 20. Jahrhunderts unterschieden, denen offenbar teilweise entgangen ist, daß sie nicht auf die Mehrung des Wohls der Europäischen Union, sondern auf diejenige des deutschen Volkes vereidigt worden sind.

Als Bismarcks größte Leistung neben der Schaffung des Deutschen Reiches gilt seine Sozialgesetzgebung. Es ist kein Zufall, daß diese und die "Sozialistengesetze" zeitlich völlig parallel laufen. Alle diejenigen, die sich heute über die Sozialistengesetze Bismarcks echauffieren, verdrängen, daß es sich damals noch um eine Bewegung handelte, die sich mehrheitlich nicht auf eine umfassende Reform des bestehenden politischen Systems festgelegt hatte, sondern auf einen notfalls gewaltsamen Umsturz. Wie würde eine staatliche Reaktion wohl heute aussehen, wenn ihm ähnliches zugemutet würde?

Mag die Einführung der Sozialgesetzgebung auch taktische Gründe gehabt haben. Eines ist sicher: von ihrem ersten Hauptteil, dem Unfall- und Krankenversicherungsgesetz 1883/84 bis hin zum Alters- und Invalidengesetz von 1889 als Schlußstein von Bismarcks Amtszeit ist ein Gesetzgebungswerk geschaffen worden, dessen Fortschrittlichkeit zu jener Zeit einzigartig in der Welt gewesen ist. Es mag vielen eigenartig klingen, aber auch dieses Werk ist von seiner ganzen Anlage das Ergebnis eines patriarchalischen Obrigkeitsstaates, ein aus persönlichem Verantwortungsgefühl resultierender Akt.

Noch heute ruft Bismarck widerstrei-tende Gefühlswallungen hervor. Daß es gegen eine offizielle Bismarck-Gedenkfeier zu seinem 100. Todestag auch eine Protestansammlung einer Handvoll "Autonomer" gab, hätte den Reichsgründer wahrscheinlich eher amüsiert.

Das Deutsche Reich war ein Staat, den der Kanzler als durchaus reformierbares Gebilde hinterlassen hat. Daß eine Modernisierung unterblieben ist, lag nicht nur an Bismarcks noch aus der Feudalzeit stammendem Gefühl, ein persönlicher Vasall des Königs von Preußen zu sein, dessen uneingeschränkte Macht er als Lehnsmann zu verteidigen habe, sondern auch daran, daß die Enkelgeneration um Wilhelm II. zugleich reaktionärer, phantasieloser und ambitionierter war als der altpreußisch nüchterne Bismarck.

"Setzen wir das deutsche Volk in den Sattel. Reiten wird es schon können", meinte Bismarck bei der Reichsgründung optimistisch. Gegen Ende seiner Amtszeit 1883 klang er dagegen zutiefst pessimistisch: "Dies Volk kann nicht reiten … Ich sehe sehr schwarz in Deutschlands Zukunft." Alles werde, so Bismarck, unter seinen Nachfolgern wieder auseinanderfallen: "Sie sind alle kleinlich und enge, keiner wirkt für das Ganze, jeder stopft nur an seiner Fraktionsmatratze." Ob sein Urteil 1998 anders ausgefallen wäre?


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen