© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
"Schwarzbuch:" Die Logik des Sterbens
Singuläre Tode
Ivan Denes

Das Schwarzbuch des Kommunismus hat scharfe Auseinandersetzungen ausgelöst, wie sie die deutsche Öffentlichkeit seit dem "Historikerstreit" nicht mehr erlebt hat. Die Polemik gegen die Jahrhundertbilanz dieses authentischen Nachschlagwerkes, die nichts von der alten Unterstellungswut vermissen läßt, wird aus zwei grundverschiedenen Quellen genährt.

Einerseits gibt es solche, die sich mit dem Bankrott aller sozialistischen Ideologie und gesellschaftlichen Experimente nicht abfinden können. Die linken Protestler gegen das Schwarzbuch gehören zum religiösen Flügel der revolutionären Bewegung; sie sind für rationale Argumente kaum zugänglich, reagieren emotional und versuchen, jede Kritik am kommunistischen Ideal oder Staat als "faschistisch" abzutun. Diese Leute sind zwar lautstark, aber ungefährlich, weil sie historisch zum Dahinschrumpfen verurteilt sind.

Andererseits hat das Ergebnis der von Stéphane Courtois geleiteten Untersuchung – 100 Millionen Tote! – Vergleiche mit dem Holocaust anstellen lassen, was wiederum zu scharfen Reaktionen derjenigen führte, die im Holocaust ein in der Geschichte unvergleichbares Ereignis sehen, einen industriell betriebenen Völkermord, der wegen seiner rassistischen Begründung ein Leidensmonopol hergestellt habe.

Diese Entwicklung gibt Anstoß zu einem Versuch, analytisch zu denken: Die Motivation des vom NS-Regime verbrochenen Völkermordes war die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk; Grundkriterium war dabei nicht der Glaube, sondern die genetische Folge, war rein rassistisch. Die Motivation des von den Kommunisten begangenen Massenmordes war die Klassenzugehörigkeit. Die Verfolgung aus rassischen Gründen hatte aus Sicht gottesgläubiger Menschen eine theologische Komponente, denn was aus der Sicht der NS-Ideologie zu der Kategorie der "Untermenschen" gehörte, war aus der Sicht der Verfolgten "ein Volk unter den Völkern", Gottes eigenes Volk. Die klassenbedingte Verfolgung erfolgte aufgrund einer pseudo-geschichtswissenschaftlichen Doktrin, des "historischen Materialismus".

Denkt man streng logisch, kann man die Einzigartigkeit des Holocaust – etwa im Vergleich zu dem Massenmord an den sowjetischen Bauern – und den daraus abgeleiteten Anspruch auf ein Leidensmonopol nur aus zwei Gründen behaupten: Entweder wird die Grausamkeit des industriell betriebenen Mordes "qualitativ" über den barbarischen, absichtlich herbeigeführten Hungertod gestellt (was ein zynisches Argument ist); oder – akzeptiert man die theologische Begründung: "Gottes Strafe an seinem Volk" – man muß zum Schluß kommen, daß Millionen Menschenleben nicht gleich Millionen Menschenleben sind. Diese Alternative darf aber nicht laut weiterverfolgt werden, weil sie des Rassismus bezichtigt werden kann, wenngleich eines biblisch begründeten Rassismus.

Im logischen Raum bleibt also die Schlußfolgerung stehen, der einzigartige Charakter des Holocaust werde aus der Art der Tötung abgeleitet. Die Tatsache, daß nach der Konferenz von Evian im Juli 1938 Hitler seitens der restlichen Welt quasi grünes Licht für die Liquidierung des europäischen Judentums bekam und dies ab 1942 auch durchführen ließ – zum Großteil industriell, mit Zyklon B, Gaskammern und den Öfen der Oswiecimer Ziegelfabrik des Joseph Melzer –, erhebt den Völkermord an den Juden, was die Leidensintensität betrifft, über den brutalen, von Stalin angeordneten und vom GRU ausgeführten "Klassenmord" an den Millionen Bauern. Allerdings für den, der nicht in höheren Kategorien denkt, sondern vom gesunden Menschenverstand geleitet durchs Leben geht, bleibt es schwer verständlich, wieso der Hungertod im Verhältnis zur Gaskammer, zur Kugel oder zum Flecktyphus theologisch und moralisch als "minderwertig" eingestuft wird.

Nun aber bleibt vor dem Tod jedes mengenmäßige Pauschalurteil fragwürdig. Schon im ersten Proseminar für Erkenntnistheorie wird dem jungen Studenten beigebracht, daß es in der Realität keinen "Tisch" schlechthin gibt, es gibt nur diesen einen, jenen, den anderen, den fünften, den millionsten Tisch, aber "Tisch" als solchen, abstrakten, einen Tisch im allgemeinen gibt es nicht. Und nichts, wahrlich nichts ist "einzelner", individueller, sozusagen "unpauschaler" als das Sterben. Das Erlöschen des einzelnen Gewissens – ob in der Gaskammer, von der Kugel, vom Hunger, von Typhus, oder von was immer – bleibt ein unvergleichbarer, persönlicher Vorgang, ungeachtet dessen, mit wieviel dieses absolut persönliche Ereignis multipliziert wird. Umgekehrt formuliert: kein Mensch stirbt mehr als ein anderer Mensch. Und es gibt keine Instanz, nichts in diesem Dasein, kein Denkmal, kein Museum, kein Videoarchiv, aber auch keinen Weltkongreß, der die Geltung des Gleichheitsprinzips vor und im Tod abschaffen kann.

Und so gesehen ist jeder Völkermord auch einmalig – insofern die Zahl der Toten, durch sich selbst dividiert, sich auch nur auf den Tod eines jeden einzelnen reduziert.


 
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