© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Pankraz, Thales von Milet und die Müßiggangster von Berlin

Der jetzt in Berlin gegründeten Zeitschrift Der Müßiggangster wünscht Pankraz Glück und gutes Gedeihen. Die Redakteure dort möchten den "Wert der Arbeit" auf breitester Front bezweifeln und relativieren; so etwas war wirklich schon lange fällig und läßt interessante Beiträge erwarten.

Mit dem Titel des neuen Organs kann man freilich, so lustig er klingt, seine Schwierigkeiten haben. Seit wann sind Müßiggänger Gangster? Ein einziger Blick gerade in die vornehmste europäische Geistestradition genügt doch, um das Gegenteil zu erweisen. Nicht der Müßiggänger, sondern immer nur der Arbeiter war hier Objekt der Verachtung und des Mitleids, zumindest soweit sich seine Arbeit in körperlicher Verausgabung, in Schwitzen und Im-Joch-Gehen erschöpfte.

Die ganze Geschichte der Technik zielt auf Überwindung des Schwitzens und Sich-Verausgabens ab. Die Techniker ließen von Anfang an andere für sich rackern, die Frage war immer nur: Sind das andere Menschen, oder ist es die Natur jenseits der Menschen, Tiere, fließendes Wasser, Wind, Gezeiten, mechanische, elektrische, chemische oder atomare Kräfte? Erst ganz neuerdings, seit nicht länger als hundert Jahren, spricht man fahrlässigerweise auch vom menschlichen Geist als von einer Arbeitskraft, Produktionskraft. Noch Marx und Engels vermochten den Geist, in Gestalt der Ingenieurskunst, lediglich als "potenzierte Muskelkraft" in ihr System einzuordnen; schwerlich wäre es ihnen in den Sinn gekommen, sich selbst als Arbeiter zu bezeichnen. Ihr berühmtes "Reich der Freiheit" begann jenseits der Arbeit.

Mit der Arbeit ist es also ein eigen Ding. Wer sie hat, der möchte sie auch heute noch so klein wie möglich halten, freut sich, wenn er mit ihr fertig geworden ist, seufzt, wenn sie ihn am Morgen ruft. Wer sie allerdings nicht hat (und das sind ja im Augenblick viele, und es werden immer mehr), der sehnt sich nach ihr, der fühlt sich nur als halber Mensch, fühlt sich ausgeschlossen, reduziert, unterprivilegiert.

Mit der Arbeit langweilt man sich, aber ohne langweilt man sich erst recht – weil man ihr Gegenteil, die Muße, nie gelernt hat. Die Arbeit kann es keinem recht machen, man findet kein vernünftiges, vom Verstand geleitetes Verhältnis zu ihr. Wobei das Wort "Verhältnis" die Sache gar nicht schlecht ausdrückt: Man wünscht sich im Grunde nicht die Arbeit, sondern ein "Arbeitsverhältnis", das heißt eine möglichst gut bezahlte, möglichst unterhaltsame und möglichst leichte, nicht allzu anstrengende Tätigkeit (oder besser: Betätigung), mit der man sein Leben ausfüllen kann, in Muße verwandeln kann, Kontakte knüpfend, Dinge und Menschen kennenlernend, immer auch in der Hoffnung, daß etwas "Sinnvolles" dabei herauskommen möge.

Der "Sinn", der Zweck der Betätigung, ist wichtig. Sisyphus möchte niemand gern sein. Steine, die immer wieder den Berg hinabrollen, möchte keiner schieben, auch wenn er dafür anständig bezahlt wird. Doch eben: Arbeit ist von Anfang an zu faktisch hundert Prozent Sisyphusarbeit gewesen, Wiederholung des immer Gleichen, Restitution dessen, was ist und immer war. Man arbeitete, um zu leben, und lebte, um zu arbeiten. Das eigentliche Leben aber war die Muße, die "Freizeit", die freie, von Arbeit befreite Zeit. Je höher einer auf der sozialen Stufenleiter stand, um so mehr freie Zeit hatte er, um so weniger mußte er arbeiten.

Für die "Uneigentlichkeit" von Arbeit qua Lebensfristung schon in frühesten menschlichen Stammesgesellschaften spricht nicht zuletzt die Etymologie des Wortes, die in allen Sprachen auf dasselbe hinausläuft: Arbeit ist Mühe, Plage, peinliches Außersichsein. Unser deutsches Wort "Arbeit" kommt vom lateinischen "arvum", was soviel wie "gepflügter Acker" bedeutet; arbeiten war also ackern, im Joch gehen. Ähnlich im Französischen: die "travail" kommt vom lateinischen "tripalus", dem Dreipfahl, mit dem man die Pferde bändigte, wenn sie beschlagen werden sollten, eine wahre Knochenarbeit. Am schärfsten sahen es wohl die Russen: Ihre "rabota" kommt von "rab", dem Sklaven. Arbeit war für sie, wie bei den alten Griechen, das, was die Sklaven machen, und zwar durchaus unfreiwillig.

Keinem freien Griechen, auch keinem Sophisten, Sokratiker oder Stoiker, wäre je in den Sinn gekommen, die Tätigkeit, der er selbst oblag, also vorzugsweise über die Welt nachdenken, miteinander diskutieren, Politik machen, ins Theater gehen, in den Krieg ziehen, als Arbeit zu bezeichnen. All das war Handeln, "praxis" auf griechisch. Arbeit war dagegen "téchne".

"Téchne und Tugend schließen sich gegenseitig aus", konstatierte Aristoteles, und von daher fiel damals ein Schatten selbst auf die feinsten Kunsthandwerker und Künstler, auf Phidias und all die anderen Schöpfer jener herrlichen Statuen, Tempel, goldenen Becher, Waffen und Schilde, die uns heute noch entzücken. Sie waren "nicht wirklich frei", so wenig wie die Händler und Geldmacher, deren abschreckendes Symbol König Midas war, der alles, was er anfaßte, in Gold verwandelte – und dadurch letztlich verhungern mußte.

Als Gegenbeispiel schildert Aristoteles den Philosophen Thales von Milet, der mit Hilfe der Astronomie, die er glänzend beherrschte, die Höhe der jeweiligen Olivenernte voraussagen konnte. Er hätte aufgrund dieses Exklusivwissens überlegen spekulieren und sich dadurch außerordentlich bereichern können, ließ es aber sein, weil er eben ein echter Müßiggänger war, der sich nie und nimmer freiwillig in solche Niederungen absoluter Tugendferne hineinbegeben hätte.

Der Müßiggangster von Berlin sollte sich Thales von Milet zum Hausheiligen und Titel-Logo wählen. Damit wäre von vornherein klargestellt, daß heutzutage nicht nur Gangster dagegen sind, daß man sein Brot "im Schweiße seines Angesichts" essen soll.


 
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