© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
"Goldene Legende": Zum 700. Todestag von Jacobus de Voragine
Der Geist des Mittelalters
Gerd-Klaus Kaltenbrunner

Noch spricht zu uns die steingewordene Musik mittelalterlicher Sakralkultur; noch bringt die Edelsteinglut gotischer Kirchenfenster in uns mystische Saiten zum Erklingen; noch sind uns Goldgrundmalerei und Gestalten wie der Bamberger Reiter nicht völlig fremd geworden. Aber diejenigen sind eine kleine Schar, denen die Poesie, Theologie und Symbolik vertraut ist, welche diese Kunstwerke bis ins Innerste geprägt haben. Was wissen wir von dem Geist des christlichen Mittelalters aus den Quellen selbst, aus seinen Summen, Sentenzsammlungen, Epen und hagiographischen Hervorbringungen? Dantes "Divina Commedia" ist ein Werk dieser Art. Wer sie gelesen hat und immer wieder darin liest, weiß nicht nur über ein Hochwerk der Weltliteratur Bescheid, sondern wächst allmählich in jenen Kosmos hinein, wie er sich vor etwa siebenhundert Jahren einem wissenschaftlich gebildeten Laien dargestellt hat. Keine moderne Monographie, kein historisches Lehrbuch mit noch so vielen Daten, Fußnoten und Tabellen vermag uns in den Geist des christlichen Hochmittelalters einzuführen wie die Lektüre der Gesänge Dantes.

Es gibt allerdings noch ein Werk, verfaßt von einem älteren Zeitgenossen Dantes, welches das gleiche zu leisten vermag: die "Legenda aurea" des vor genau sieben Jahrhunderten – am 14. Juli 1298 – unter dem Pontifikat des Papstes Bonifaz VII. verstorbenen Dominikaners Jacobus de Voragine. Beim Lesen der "Legenda aurea", die bereits zu Lebzeiten des Verfassers, also noch vor Erfindung des Buchdrucks, auch in Deutschland sich durch Abschriften, Übersetzungen und Bearbeitungen zu verbreiten begann, verhält es sich wie mit dem Betrachten gotischer Kirchenfenster. Wer sie von außen anschaut, gewahrt weder ihre Farben noch die dargestellten Gestalten und Szenen. Nur denen, die sich dazu bequemen, in das Dämmerlicht des Domes einzutreten, enthüllt sich die Leuchtkraft dieser kristallenen Bildteppiche und ihre bleibende Botschaft. Die Legenden sind fortgeschriebenes Evangelium, geschichtlich-übergeschichtliche, exemplarische Bilder möglicher Nachfolge Christi in Glaube, Hoffnung und Liebe. "Man muß sie der eigenen Seele wegen lesen", hat der protestantische Theologe und Hagiograph Walter Nigg einmal gesagt.

Um 1230 geboren, stammt Jacobus de Voragine aus der südwestlich von Genua gelegenen Ortschaft Vorago. Wohl schon in jungen Jahren in den Predigerorden des Heiligen Dominikus aufgenommen, bekleidete Jacobus de Voragine zweimal das Amt eines Provinzials und starb als Erzbischof von Genua, im siebenten Jahre seines Hirtenamtes, von allem Volk betrauert wegen seiner Milde, Güte und Friedfertigkeit inmitten einer Zeit der Zwietracht, Parteiung und Wirrnis. Die römisch-katholische Kirche hat ihn im Jahre 1816 seliggesprochen oder, genauer gesagt, seine von alters her gepflegte Verehrung ausdrücklich anerkannt und bestätigt.

Die wohl eigentümlichste poetische Blüte im Garten der christlichen Literatur ist, neben Kirchenhymnus und liturgischer Sequenz, die Legende der Heiligen. Legende bedeutet ursprünglich durchaus nicht "Fabel", "Märchen" oder "Erdichtung", sondern schlicht: "das zu Lesende". Am Festtag von Heiligen sollten beim Gottesdienst oder während der Klostermahlzeit aus dem Legendarium die von ihnen handelnden Erzählungen rezitiert werden. Das Werk des Jacobus von Voragine stellt die hagiographische Summe von mehr als tausend Jahren dar. Mit kaum überbietbarem Fleiß hat der genuesische Mönch biblische Nachrichten, apokryphe Evangelien, Märtyrerakten, Viten von Eremiten, Asketen und Wundertätern, die Werke der großen Kirchenväter wie Dionysius vom Areopag, Augustinus, Gregor dem Großen, Hieronymus und anderer – außerdem Nekrologe, Panegyriken und lokale Überlieferungen, den "Barlaam und Josaphat"-Roman und viele andere religiös-erbauliche Erzählwerke zusammengetragen, ausgewertet und miteinander verglichen, um daraus etwas völlig Neues und Einzigartiges zu schaffen.

Keineswegs ist der sich als Historiker betätigende Jacobus so leichtgläubig, kritiklos und mirakelsüchtig, wie gelegentlich unterstellt wird. Natürlich ist er als Mann des 13. Jahrhunderts kein "Homo modernus", der dogmatisch voraussetzt, daß es überhaupt keine Wunder geben könne und das Streben nach Heiligkeit ein Anzeichen von Geistesstörung, Masochismus oder Weltflüchtigkeit sei. Immer wieder setzt der Autor der "Legenda aurea" auch Fragezeichen des Zweifels, macht auf Widersprüche in den Überlieferungen aufmerksam, und gelegentlich wird er sogar ironisch: "Ob dieses aber wahr ist oder nicht, lassen wir bei des Lesers Urteil, denn in keiner bewährten Historie oder Chronik finden wir es geschrieben." Oder: "Nun scheint es uns gar nicht glaublich (…), es sei denn, man spreche, daß die Menschen damals länger lebten…"

So wie Dantes "Divina Commedia" uns durch Hölle, Fegefeuer, irdisches Paradies und die verschiedenen Sphären des Himmels führt, so die "Legenda aurea" durch den sich immer wieder erneuernden Kreis eines vollständigen Kirchenjahres. Manche Abschnitte der "Legenda aurea" umfassen nur eine halbe Seite, andere zwanzig und mehr Seiten. Gelegentlich begnügt sich der Dominikaner damit, schmucklos wiederzugeben, was er in Märtyrerakten und frühchristlichen "Passiones" gefunden hat. Des öfteren entfaltet er jedoch mit erzählerischem Schwung hagiographische Leporelloalben, ganze Novellen, Abenteuergeschichten und Mysterienromane, deren Helden beispielsweise Prinzen sind, die als Einsiedler sterben, oder als Mönche verkleidete Pilgerinnen oder auch Apostel wie Thomas, über die er viele erstaunliche Dinge zu berichten weiß, die nicht der Bibel, sondern anderen Überlieferungen entnommen sind. Tote erheben sich von Bahren, wilde Tiere umschmeicheln die ihnen zum Fraße dargebotenen Märtyrer, Engel speisen Hungrige, in Flammen geworfene Jünglinge verspüren kein Brennen, sanfte Jungfrauen erweisen sich als vom Heiligen Geist beflügelte Philosophinnen, die Könige und Sophisten überwinden.

Die "Legenda aurea" war bis zur Zeit der Reformation – und in katholischen Gebieten bis weit in das 18. Jahrhundert hinein – das neben der Bibel und der "Nachfolge Christi" meistverbreitete Buch. Schon zu Lebzeiten ihres Verfassers war das im Original lateinisch geschriebene Werk in deutsche Lande gelangt.

Immer wieder übersetzt, nachgeahmt, erweitert, gekürzt und ergänzt, gemahnt die "Goldene Legende" in manchen Abschnitten an die Bilder des Fra Angelico, Sassetta und der "Très riches heures du Duc de Berry" der Gebrüder von Limburg. Trotz seiner scheinbaren Einfältigkeit hat dieses von scholastischer Denkweise, mystischer Inbrunst und kindlicher Freude am Wunderbaren geprägte Werk Hunderten und aber Hunderten von Dichtern, Malern und anderen Künstlern als Fundgrube, Vorbildund enzyklopädische Ideen-, Motiv- und Symbolquelle gedient. Doch das allerletzte Wort habe der vor 700 Jahren verstorbene Mönch, Kirchenfürst und fruchtbare Schriftsteller selbst:

Zu den vielen weiblichen Heiligen, deren Feste in den Juli fallen, gehört neben Magdalena, Anna und Martha auch St. Margarita (20. Juli). Wie so oft, beginnt Jacobus de Voragine den Bericht über ihr Leben und Sterben, ihre Wunder und Tugenden damit, daß er den wohltönenden Namen im Sinne einer surrealistischen Etymologie litaneigleich umkreist: "Margarita hat ihren Namen von einem gar köstlichen Edelstein, der Margarita (Perle) genannt ist; dieser Stein ist weiß und klein und kraftvoll. Also war Sanct Margarita weiß durch ihre magdliche Reinheit; klein durch ihre Demut; voller Kräfte durch die Wunder, die sie bewirkte. Sie hatte die Kraft, das Gemüt zu festigen durch ihre Lehre, mit der sie viele Seelen stärkte und zum Glauben an Christus brachte."


 
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