© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Staatsbesuch: Clinton, China und die Menschenrechte
Das politische Maß
von Franz Uhle-Wettler

Schon während des Kalten Krieges haben manche kommunistischen Regierungschefs und hat sogar Chruschtschow, die USA offiziell besucht. Angenommen, schon vor dem Besuch wären diese Regierungschefs öffentlich ermahnt worden, in den USA vor allem den kommunistischen Dissidenten den Rücken zu stärken, und während ihres Besuches hätten sie für ihre politische Überzeugung geworben. Dann hätte die amerikanische Öffentlichkeit ihnen wohl Takt- und Maßlosigkeit vorgeworfen und sie in ihre Schranken verwiesen. Man kann das Gedankenspiel noch weiter treiben, davon ausgehend, daß die Amerikaner fast bis in unsere Tage Afroamerikaner fast in jeder Beziehung und sogar die Juden wenigstens gesellschaftlich ausgegrenzt haben. Hätte damals jener hypothetische kommunistische Regierungschef in Washington öffentlich die Wahrung der Menschenrechte und den Kampf gegen den Rassismus angemahnt, so wäre er wohl im Recht gewesen. Dennoch hätte man in den USA seine Bemerkungen wohl wenig freundlich aufgenommen.

Aus dieser Sicht sind die deutschen Kommentare zur China-Reise Clintons bemerkenswert. Sehr weit im Vordergrund steht die Frage, ob Clinton die Achtung der Menschenrechte nachdrücklich eingefordert und sich ausreichend für die Dissidenten, für die Demokratie und für eine friedenssichernde Politik eingesetzt hat. Dabei wird ohne das sonst so beliebte "kritische Hinterfragen" vorausgesetzt, daß den USA, wie dem Westen überhaupt, ein Belehrungsrecht zusteht. Ebenso unbefangen wird vorausgesetzt, daß die öffentliche Ausübung dieses Rechts, wenn es denn vorhanden sein sollte, politisch klug und den Gastgebern zuzumuten ist.

Aber Äußerungen eines Regierungschefs sind politische Akte. Deshalb ist es nicht nur bedeutsam, ob solche Äußerungen sachlich berechtigt sind und ob sie vor dem gestrengen Urteil der Ideologen und Kommentatoren Bestand haben können. Ebenso wichtig ist, wie sie auf die Gastgeber wirken. Dazu aber wird man feststellen dürfen, ja müssen, daß manches, was Clinton nach Auffassung vieler Kommentatoren hätte sagen müssen, aus Sicht nicht nur der Chinesen fragwürdig klingt.

So mag die enge Verbindung zwischen demokratischen Freiheiten und den Menschenrechten im Westen selbstverständlich scheinen. Doch die USA haben nach ihrer Gründung noch mehr als achtzig Jahre lang Demokratie und Sklaverei miteinander verbinden können. Anschließend haben sie noch bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts Afroamerikaner, Indianer und oft auch chinesische Einwanderer in einer Weise behandelt, die diesen als eine amerikanische Version der Apartheid erscheinen konnte. Zudem haben die Chinesen lange genug westlichen Rassismus auch am eigenen Leibe erfahren.

Auch die Verbindung von Demokratie und Friedensliebe kann Chinesen aus guten Gründen weniger selbstverständlich erscheinen als dem Westen allgemein. Nicht nur Tschiang Kai-Shek, auch Mao Tse-Tung hat mehrfach darauf verwiesen, daß jeder Quadratmeter amerikanischen Bodens Indianern oder Spaniern mit dem Schwert abgenommen wurde. China selbst ist mehr als hundert Jahre lang von demokratischen Staaten ausgeplündert worden. Während der sechziger Jahre kämpften die USA in Vietnam. Derweil lieferte Chinas kommunistische Diktatur beim Grenzkrieg mit Indien das wohl beeindruckendste Beispiel klugen politischen Maßhaltens inmitten militärischer Erfolge, das die Geschichte verzeichnet.

Tienamen-Platz? Symbol blutiger Unterdrückung? Nicht nur Peter Scholl-Latour urteilt, die Niederschlagung habe China einen Bürgerkrieg mit Millionen von Toten erspart. Die Furcht vor einem Zerfall des Riesenreiches – Geißel der chinesischen Geschichte – hat sogar Clinton jetzt "verständlich" genannt.

Wohin solche und ähnliche Gedanken führen? Wohl nur zu der einfachen Frage, ob der Westen wirklich das Maß aller Dinge ist und wie er sich verhalten soll. Sicher ist, daß der Eifer, den manche deutschen Kommentatoren empfehlen, unangemessen wäre. Die Chinesen haben die häßliche Seite manchen demokratischen Handelns zu deutlich gespürt. Da kann etwas bescheidene Zurückhaltung dem Westen nicht schaden.

Andererseits ist unzweifelhaft, daß Demokratie essentiell besser und menschenwürdiger ist als Diktatur. Allerdings ist auch wahr, daß die Demokratie ein soziologisches Fundament und dazu Eingewöhnung braucht, die beide in China noch nicht vorhanden sein können. Dennoch: weil Demokratie besser ist, mögen die demokratischen Staaten und mag auch Clinton ein Belehrungsrecht gegenüber Diktaturen beanspruchen. Aber die Ausübung auch dieses Rechts ist dem alten Satz unterworfen, daß die Tugend die Mitte zwischen den Extremen, also die Mitte zwischen heiligem Eifer und Untätigkeit ist. Auch dieses Recht darf nur mit Maß ausgeübt werden. Die alten Griechen sprachen von Sophronsyne. Schon sie betrachteten "das Maß" als den Kern von Tugend, Schönheit – und von politischer Klugheit.


 
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