© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Wo ist der Spielmacher?
von Matthias Jens

Bundeskanzler Kohl zieht wahlkämpfend unverdrossen durch die neuen Bundesländer, doch kaum jemand nimmt davon Notiz. Der SPD-Kandidat für den Posten des Wirtschaftsministers in einer Schröder-geführten Bundesregierung, Jost Stollmann, springt übermütig von einem Fettnäpfchen ins andere, doch außer einigen aufgeschreckten Gewerkschaftern nimmt kaum jemand davon Notiz. Die FDP veranstaltet in Leipzig einen dreitägigen Bundesparteitag, trifft eine – erwartete – Koalitionsaussage und verabschiedet ein Wahlprogramm, doch kaum jemand nimmt davon Notiz. Keine Frage, irgendwie ist die politische Klasse in diesen Tagen zu bedauern. Wegen "König Fußball" als Konkurrenten steht sie zunehmend im medialen Abseits.

Seit die Fußball-Weltmeisterschaft in Frankreich mit den Achtel- und Viertelfinalbegegnungen in die "heiße Phase" getreten ist, können Politiker landauf, landab getrost ihren Pausentee trinken. Je mehr die fußballerische Fieberkurve steigt, desto mehr droht das Politische in Rückstand zu geraten. Oder doch nicht? Vielleicht ist die Fußball-WM ja auch nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und Berti Vogts das Synonym für Helmut Kohl. Und überhaupt, klingen Namen wie Babbel, Heinrich, Wörns oder Ziege nicht genauso wie Blüm, Merkel, Rexrodt oder Wissmann? Und hat Andy Möller nicht doch mehr Gemeinsamkeiten mit Peter Hintze als bisher wahrgenommen? Wer das phantasiearme Gewürge der deutschen Nationalmannschaft in den bisherigen Spielen verfolgt hat, mag diese Gedanken als naheliegend empfinden. Zumal auch für Helmut Vogts’ Mannschaft mittlerweile nur noch das Motto von Berti Kohl gilt, wichtig sei, was am Ende hinten rauskommt. Die Ästhetik des Politischen bleibt da ebenso auf der Ersatzbank sitzen wie die ungeteilte Freude an der "schönsten Nebensache der Welt".

Immerhin: Die Kohl-Regierung hat es mit dieser Einstellung bis ins sechzehnte Amtsjahr geschafft, und auch die deutsche Nationalmannschaft ist bis ins Viertelfinale der WM gestolpert. Was der deutschen Mannschaft wie der deutschen Politik fehlt, ist ein Spielmacher. Ein kreativer Gestalter, der seine Mitspieler zu führen, das Spiel an sich zu reißen vermag. Doch es gibt eine Sache, die Mut macht: Wir haben zwei Vollstrecker. Es kann noch so schlecht um uns stehen, Oliver Bierhoff und Jürgen Klinsmann sorgen für das Happy-End. Doch wo ist der politische Vollstrecker? Helmut Kohl hat er noch nie geheißen. Schröder entwickelt sich ebenfalls zum Aussitzer. Aber einige sitzen ja noch auf der Ersatzbank und warten auf die Einwechslung. Doch über das Mitspielen bestimmt der Wähler – und der schaut vorerst Fußball.


 
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