© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Kolumne
Wie im Märchen
Von Klaus Motschmann

Der Prozeß der politischen Urteils- und Willensbildung in einer Massengesellschaft unterliegt einer ebenso merkwürdigen wie fest einkalkulierbaren Besonderheit, wie sie in einem französischen Märchen anschaulich beschrieben wird: Ein König läßt in seinen Schloßteich eine Lilie setzen, die wegen ihrer Schönheit allgemeine Bewunderung erregt und als "Bereicherung" der Gartenarchitektur empfunden wird. Dies um so mehr, als diese Lilie die (zunächst) positiv beurteilte Eigenschaft hat, sich wöchentlich zu verdoppeln. Allein der Gärtner macht auf die Konsequenzen aufmerksam: daß auf diese Weise der Teich innerhalb eines Jahres von Lilien bedeckt sein werde, die alles Leben im Teich ersticken und ihn in eine sumpfige Kloake verwandeln werden. Aber niemand hört auf ihn. Im Gegenteil, mit jeder weiteren Lilie nimmt die Schönheit des Teiches zu. Am 200. Tag, am 300. Tag, ja noch am 363. Tag (der Teich ist erst zu einem Viertel bedeckt). Erst am 364. Tag, als der Teich halb bedeckt ist, werden sich die Menschen am Hof und außerhalb des Hofes des Problems bewußt. Tatsächlich ist der Teich am 365. Tag völlig bedeckt und stirbt. Hätte man doch nur auf den Gärtner gehört!

Dieses Märchen ist in den vergangenen Jahren selbst in wissenschaftlichen Darstellungen immer wieder zur Veranschaulichung des sogenannten exponentiellen Wachstums von allen möglichen Problemen in Gesellschaft und Politik herangezogen worden; zur Erklärung der Welthungersnot und weltweiter Epidemien, der unkontrollierten Migrationsbewegungen und diverser ökologischer Probleme, der Arbeitslosigkeit sowie der Staatsverschuldung. Immer handelt es sich um lange Zeit kaum bemerkbare bzw. bemerkte Entwicklungen, die dann plötzlich und unerwartet "umkippen" und Entscheidungen erzwingen, auf die das Volk unter den gegebenen Umständen nicht vorbereitet ist. Dafür gibt es verschiedene Gründe; einer davon sind anstehende Wahltermine.

Ein Beispiel von vielen ist die Entwicklung der Verschuldung des Bundes, der Länder und der Kommunen in Deutschland. Sie beträgt 2,2 Billionen DM und wächst relativ kontinuierlich weiter: pro Tag um 274 Millionen DM, pro Stunde um 11,5 Millionen, pro Minute um 190.000 DM. Selbstverständlich hat auch diese Entwicklung mal ein Ende. Aber wann? Auf welche Weise? Mit welchen Konsequenzen für jeden einzelnen? Wer die öffentlichen Auseinandersetzungen um die Zukunft unseres Geldes verfolgt, gewinnt den Eindruck, daß sich trotz dieser rasanten Schuldenentwicklung nichts Wesentliches ändert. Man würde allerdings gern stichhaltige Gründe erfahren, wie das auf Dauer möglich sein soll.


 
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