© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Widerspruch gegen das Vernünftige
von Hrvoje Lorkovic

Der Motor heutiger Kontroversen um Europa ist der Euro. Soll er eingeführt werden? Kann er sich halten? Wird er die Arbeitslosigkeit senken? Hinter solchen "kleinlichen" Fragen erheben sich die Visionen Europas, die von vielen für fromme Wünsche erklärt werden. Aber auch die heutigen Visionen scheinen weniger der Frömmigkeit als vielmehr der Bequemlichkeit zu entspringen: man möchte ungehindert reisen, ohne Geldwechsel und Umrechnerei.

Doch auch Wünsche der erhabeneren Art kommen zum Vorschein, wenn vom "Geist Europas" die Rede ist. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus scheint Europa erstmals wieder als Ganzes denkbar. In einem vereinten Europa sollte sich dieser edle Geist weit besser als in einem geteilten durchsetzen können. Die europäische Einheit, die geistige, sollte eigentlich schon längst im Geiste des Christentums, in wissenschaftlich verwurzelter Rationalität und im Freiheitssinn vorgezeichnet sein. Einen Konsens darüber scheint es jedoch kaum zu geben. So meinte der französische Philosoph Georges Sorel noch vor dem ersten Weltkrieg, die einzige Idee, wodurch Europa vereint sei, sei die Idee des Krieges. Schlachten sich etwa Katholiken, Orthodoxe und Protestanten aus christlicher Liebe gegenseitig ab? Wer darf von Rationalität reden, solange die internationalen Nationalismen in Europa beheimatet sind? Und sollten die Totalitarismen der Neuzeit als Zeichen der europäischen Freiheitsliebe gedeutet werden?

So wie es ist, scheint der Reichtum der Widersprüche tatsächlich die einzige Gemeinsamkeit Europas zu sein. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset erklärte diese Gegensätze als Zeichen einer besonderen Art der Einheitlichkeit Europas:

"Jedes neue Prinzip regte (in Europa) Diversifizierung an. Die christliche Idee hat nationale Kirchen zur Folge; das Gedenken des Römischen Imperiums wird zur Inspiration unterschiedlicher Staatsformen; die Wiederbelebung des Schrifttums im 15. Jahrhundert setzt unterschiedliche Literaturen in Bewegung, die Wissenschaft und das umfassende Prinzip der Menschheit als reine Vernunft kreiert unterschiedliche intellektuelle Stilformen, die sogar bei den extremen Abstraktionen der Mathematik formgebend sind.Letztendlich, und als Extrem, bewirkt sogar die extravagante Idee des 18. Jahrhunderts, wonach alle Völker eine identische Verfassung haben müssen, das romantische Erwecken von unterschiedlichen Gewissensformen der Nationen, wodurch jede von ihnen zu ihrer besonderen Berufung gedrängt wird."

Man könnte noch weiter gehen als Ortega und sagen: Alles Neue, das flüchtig in Europa entstand, bewirkte sein bleibendes Gegenteil; wann immer Einheitlichkeit angestrebt wurde, bewirkte dies eine Teilung. Die Unterscheidung zwischen echten und falschen Franken unter den Nachfolgern Karls des Großen (wobei die romanisierten die echten sein sollten) wurde dem fränkischen Reich Karls zum Verhängnis; die Grundlage für die Bildung Deutschlands und Frankreichs als die zwei entgegengesetzten Prinzipien Europas wurde mit ihr geschaffen. Die französische Revolution setzte sich als Ziel die allgemeine Verbrüderung der Menschen und provozierte damit die Militanz der Nachbarn Frankreichs. Das Ergebnis war eine weitere Nationalisierung dieses Staates, was zum Vorbild vieler europäischer Völker wurde. Die russische Oktoberrevolution wurde im Namen des internationalenProletariats ausgerufen, doch der daraus entstandene Staat isolierte sich von anderen Staaten durch undurchdringliche Grenzen, die ganz Europa durchquerten.

Angesichts dieser Tatsachen drängt sich die Frage auf, welche kontraproduktiven Auswirkungen vom Euro und von der Verwirklichung des Gedankens vom vereinten Europa zu erwarten sind. Kohl ist als "Kanzler der Franzosen" bezeichnet worden. Mit diesem perzeptiven Titel reiht er sich unter die Erben Karls des Großen ein. Kann er aber die Entstehung eines Europäischen Großstaates aus diesen Wurzeln schaffen?

Nicht, daß es in Frankreich an solchen Bestrebungen mangelte. Sie wurden deutlich von einer Reihe französischer philosophen – Voltaire unter ihnen – verkündet. Einige Formulierungen aus der Feder des französischen Philosophen Julien Benda aus seinem Werk "Der Verrat der Intellektuellen" (La trahison des clercs, 1927) belegen dies. Für Benda charakterisiert sich Europa durch die Opposition Frankreichs zu Deutschland. Benda war kein Freund des etatistischen Molochs, des Staates mit seinem ausufernden Imperialismus, seinen hierarchischen Übertönen, seiner kriegerischen Einstellung und seinem Heldenkult. Alle diese Eigenschaften fand er in Deutschland verkörpert. Er beschrieb es als grausam militaristisch und expansionistisch. Deutschland sollte es gewesen sein, das den Nationalismus und mit ihm den nationalistischen Intellektuellen erdachte. Den letzteren hielt er für einen Verräter des Intellekts und geißelte seinesgleichen auch unter den Franzosen. Er vertrat dagegen den intellektuellen Patriotismus, der sich auf Vernunft und Freiheit gründet.

Nicht, daß es den deutsch-französischen Gegensatz nicht gäbe. Er wurde jedoch von Benda deutlich verzerrt. Wir wissen, daß Deutschland jahrhundertelang an seiner Vergötterung Roms litt, daß es an der Unmöglichkeit, römisch (das heißt europäisch) zu werden zerbrach und nach dem Westfälischen Frieden zu einem Unstaat wurde, von dem sich die Sonnenkönige Teile losrissen, wann immer es ihnen gefiel, wobei Kulturstädte wie Heidelberg vernichtet wurden. Benda glaubte an einen auflösbaren Vertragsstaat. Wie sich die Bürger Frankreichs von einem unerwünschten Staat lösten, das zeigte sich in der Behandlung der Hugenotten.

So wie Benda denken auch heute viele Freiheits- und Rationalitätsträger der Welt. Keiner von ihnen scheint begriffen zu haben, daß Freiheit wie Rationalität Aporien bergen, die sie unlehrbar machen. Eine übernommene Rationalität ist keine Rationalität, wie auch eine aufgedrängte Freiheit keine ist. Welcher freie Mensch würde sich auf Dauer der Gefahr aussetzen, als nachäffender Barbar abgestempelt zu werden? Es ist somit begreiflich, daß bereits von anderen besetzte Formen der Rationalität und der Freiheit für einen Neuling tabu werden können. Unter solchen Umständen prahlt man nicht mit seinem freien Willen, man sagt schlicht: "Ich kann nicht anders." Genauso haben die nationalistischen deutschen Intellektuellen der romantischen Epoche nach ihrem "Wesen" gefragt, weil sie auf dem Boden der klassischen Kultur kein eigentliches Selbstvertrauen wachsen sahen. Sie konnten nicht anders, als sich auf das Eigene zu besinnen, das schon da war. Sie wußten auch, daß mit dem besten Willen, sei es auch mit dem eines so Begabten wie Friedrich II., dem Staufer, nur Intrigen und Niederlagen zu ernten sind.

Der "Kanzler der Franzosen" verfolgt trotzdem den von Benda angedeuteten Weg. Er glaubt an ein appollinisches Europa und bietet nicht nur den Deutschen die Köstlichkeiten der franko-europäischen vernünftigen Freiheit. Die Völker, die sich durch die scheinbar so harmlose Umarmung bedroht sehen, können nicht dem eleatischen Europa zuliebe das aus den Händen lassen, was ihnen nach so viel utopischer Vernunft noch in den Händen geblieben ist. "Was", so könnten sich zum Beispiel die Russen fragen, "wenn wir mit einem Kanzler der Franzosen einen zweiten Kaiser der Franzosen vor uns haben?" Das Kontraproduktive der neuen europäischen Initiative ist damit definiert. Eine verzweifelte, womöglich auch kopflose Reaktion Osteuropas auf die Übergriffe des Westens ist zu erwarten. Das anscheinend Vernünftige entpuppt sich als Aberwitz.

Eine Alternative müßte anders, letztendlich aber doch noch rational sein. Gibt es sie? Zu einer Zeit, in der die Grenzen zwischen Big Business und Bigger Mafia fließend geworden sind, erinnert man sich an den Slogan "Small is beautiful". Es ist ein konservativer Slogan. Seine Verwirklichung ist jedoch gerade in der Zeit, in der Europa sich aufzublähen beginnt, erreichbar geworden. Nicht durch irgendeine "Rückkehr zu den Wurzeln", sondern durch neue, kostengünstig gewordene Techniken. Das Kleine kann jedoch einen Anfang nur im Rahmen des noch existierenden Übergroßen haben. Bricht das ambitiöse Europa zusammen, wird es keine Chance mehr für den Umbau zu einem bescheidenen geben. Die Tür der Bescheidenheit bleibt aber verschlossen, eben weil die Europäer nicht frei, sondern Sklaven ihrer großen Ambitionen geworden sind.


 
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