© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Kongreß: Ehemalige DDR-Bürgerrechtler trafen sich in Leipzig
Fragen ohne Antworten
von Oliver Geldszus

Neun Jahre nach den bewegenden Tagen im Herbst 1989 lud die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung am Dienstag vergangener Woche im Leipziger Gewandhaus zu einem Bürgerrechtlerkongreß unter dem Motto "Der Demokratie Zukunft geben – Europas Weg zu Freiheit und Verantwortung". Etwa 1.800 Teilnehmer folgten der Einladung der einstigen DDR-Oppositionellen zu dem Treffen, das durch die Eröffnungsrede von Bundespräsident Roman Herzog erheblich in seiner öffentlichen Wirkung erhöht wurde.

Wie erwartet, würdigte Herzog die Rolle der Bürgerbewegungen 1989; ohne sie hätte es keine deutsche Einheit gegeben. Während er die DDR eindeutig als "Unrechtsstaat" bezeichnete und die Bilanz des Kommunismus – nicht zuletzt unter Verweis auf das "Schwarzbuch" – "barbarisch" nannte, plädierte er bei der genaueren Bewertung des zweiten deutschen Teilstaates für eine Trennung zwischen Staat und Volk, da das Regime niemals eine Mehrheit hinter sich gewußt habe. Nicht jedem Mitläufer könne aber blind das "Gütesiegel demokratischer Glaubwürdigkeit" verliehen werden. Die Bürgerrechtler, die ein "Leuchtfeuer" in der Zeit der Diktatur gewesen seien, bezeichnete Herzog als "konkrete Hoffnung" in der Demokratie.

Diese hehren Worte konterkarierte Bärbel Bohley als erste Rednerin insofern, als sie sich sogleich von dem im nachhinein geprägten Begriff des "Bürgerrechtlers" distanzierte: "Wir sind nur auf die Straße gegangen, um unser eigenes Leben zu verändern." Auch erklärte sie nochmals unmißverständlich, daß es ihr und den anderen Mitstreitern damals nicht um die Abschaffung der DDR gegangen war. An Stelle des Bürgerrechtlers würde sie lieber den Begriff des "verantwortungsbewußten Bürgers" setzen. In diesem Zusammenhang plädierte sie für eine Politik der kleinen Schritte, für demokratische Veränderungen an der Basis. Bohley, die seit 1996 ein Heimkehrer-Projekt in Sarajewo betreut, kann ihre Erfahrungen jenseits der bundesdeutschen Parteiendemokratie nunmehr in Bosnien in die Tat umsetzen.

Bürgerrechtler betrachten die PDS weiterhin als Feind

In diesem Sinne übte auch der noch den Grünen angehörende Konrad Weiß Kritik am verkrusteten Parteiensystem der Bundesrepublik und sah gerade hier Ansatzpunkte für eine neue, von Bürgerrechtlern initiierte Politik, allerdings bemängelte er eine generelle Lethargie und Visionslosigkeit in den Reihen der alten Oppositionellen. Der ehemalige Pfarrer der Berliner Samaritergemeinde, Rainer Eppelmann, mahnte, den Blick zurück nicht zu vergessen und verwies auf die Arbeit der Enquete-Kommission des Bundestages, der er seit 1990 angehört. Es wurde deutlich, daß die Mehrheit der Bürgerrechtler die PDS als alten und neuen Feind betrachtet und darin auch eine gewisse Identität sieht. Insbesondere Vera Lengsfeld schoß einige scharfe Spitzen in Richtung PDS und Sachsen-Anhalt ab und kritisierte den "geistigen Totalitarismus" einiger Alt-Achtundsechziger. Frau Lengsfeld erklärte, es gäbe zwei Hauptaufgaben für die Bürgerrechtler: Aufarbeiten des geistigen Erbes des Kommunismus und das Brechen von Tabus. Hierbei hob sie das Tabu der nationalen Identität hervor und bemerkte, daß das Verdrängen der nationalen Frage zu "Autoaggression" führe.

Nach diesen Redebeiträgen sollte ein Podiumsgespräch mit Angelika Barbe, Günter Nooke, Gerd Poppe sowie als Gast Janusz Lewandowski aus Danzig den Beitrag der Bürgerrechtler zur Zukunftsgestaltung klären, was jedoch nur bedingt gelang. In der Regel liefen die Beiträge auf die bekannten Positionen und Meinungen hinaus. Zuvor hatte der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen und ehemalige Pastor Joachim Gauck über die lange Traditionslinie der Unterdrückung in der Menschheitsgeschichte räsoniert und die Demokratie in diesem Kontext als gewagten Neuanfang gekennzeichnet: "Es gibt in vielen Menschen einen natürlichen Hang zur Unterwerfung." Die Demokratie sei somit etwas Neues und auf das Verantwortungsbewußtsein des Einzelnen angewiesen. In der Zivilcourage liege für ihn der Ansatz der Bürgerrechtspolitik. Ähnlich äußerten sich auf dem Podium Barbe und Nooke, während Gerd Poppe behauptete, die Bürgerrechtler seien gerade wieder dabei, ihre Aufgabe zu erkennen.

Doch davon kann im Ernst wohl kaum die Rede sein. Sieht man sich die Palette der einstigen Aktivisten an, so sind Stagnation und Orientierungslosigkeit nicht zu verkennen. Das liegt vornehmlich daran, daß die Bürgerrechtler am 3. Oktober 1990 in einem Deutschland ankamen, das sie so nie gewollt haben, denn nach dem Fall der Mauer übernahmen die Massen mit ihrem Ruf nach schneller Einheit die Meinungsführerschaft und degradierten die einstigen Vorkämpfer mit ihren basisdemokratischen Ansätzen und Träumereien vom dritten Weg zu Zuschauern und Türstehern der Geschichte.

Davon haben sich viele bis heute nicht erholt, und auch die PDS vereinigt daher ehemalige Gegner der SED-Diktatur nunmehr in ihren Reihen. Andere bereiten den riesigen Nachlaß der Staatssicherheit auf, während der prominentere Teil den Weg in die Parteienlandschaft fand. Vor allem die CDU hat seit einiger Zeit – nachdem Helmut Kohl eines Tages im August 1995 überraschend zu Tee und Mürbegebäck in Bärbel Bohleys Wohnung erschien – dieses Potential erkannt und zum Teil erfolgreich in ihre Reihen gelockt, wie Angelika Barbe oder Günter Nooke. Von den Kongreßteilnehmern gehören Eppelmann und Lengsfeld seit längerem der CDU an, während Weiß und Poppe für die Grünen im Bundestag sitzen.

Teilnehmer wurden "ein bißchen" ausgewählt

Die Frage nach der Bedeutung, im eigentlichen aber auch nach der Existenzberechtigung der Bürgerrechtler innerhalb einer Demokratie konnte der Kongreß nicht im Ansatz klären. Gehören sie unter Umständen notwendig zur Geschichte des Kommunismus und sind mit ihm untergegangen? Sind sie aufgrund ihrer Verdienste "bessere" Demokraten? Oder nur sensiblere? Ihre Aufgaben könnten in innovativen Politikansätzen, an der Basis sowie im plebiszitären Bereich liegen.

Trotzig erklärte einer der Mitinitiatoren des Leipziger Treffens, Ehrhart Neubert, im Vorfeld: "Dies ist kein reines Veteranentreffen." Es müsse gegen das Bild vom enttäuscht in der Ecke herumsitzenden Bürgerrechtler gekämpft werden, denn dazu gebe es keinen Grund: "Wir sind die Sieger der Geschichte".

Gemeinsam mit Bärbel Bohley ist er Verfasser des Buches "Wir mischen uns ein", das neue Ansätze zu formulieren versucht. Der Leipziger Kongreß war kein "Who’s Who" der Bürgerbewegung; dazu fehlten zu viele, wie etwa Wolfgang Ullmann, Friedrich Schorlemmer, Wolfgang Templin oder Jens Reich. Ein bißchen sei schon ausgewählt worden, wie Neubert zugab. Dennoch wehrte er sich dagegen, daß das Ganze nur eine CDU-Wahlkampfveranstaltung mit Ausrichtung gegen die PDS gewesen sei.

Auf die Frage, ob die Bürgerrechtler heute überhaupt noch gebraucht werden, antwortete Bärbel Bohley, das sei eine "komische" Frage, wie die nach Leben und Tod. Es ist die eigentliche Frage, in der sich nicht nur der Kongreß bündelt, sondern auch das Schicksal einer politischen Bewegung, die einst die SED-Diktatur beseitigen und einen neuen Weg zwischen Demokratie und Sozialismus schaffen wollte. Es wäre töricht, sich mit ihr nur aus wahltaktischen Gründen schmücken zu wollen und auf ihr Potential zu verzichten.


 
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