© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Fern-Sehen: Freischwebende Assoziation
Zu später Stunde
von Ulrich Schacht

Armes Weißrußland, glückliches Deutschland! Diese (zugegeben: ein wenig pathetisch klingende) Erkenntnis überfiel mich am vergangenen Wochenende, und zwar mit geballter Wucht. Es geschah just in dem Augenblick, als der Sonnabend zwar noch im Bewußtsein, der Sonntag jedoch formal schon eingetreten war. Zu später Stunde also. Und am Ende einer jener seriösen TV-Nachrichtensendungen, die in den visuellen Horrorreigen aus aller Welt dieses oder jenes prächtige Bonner Infoblümchen mit einflechten und uns so, bei aller prinzipiellen Kritik, signalisieren: Solange der Rhein noch durch den Bundestag fließt, ist alles in Ordnung. Normal. Nicht wirklich kritisch. Oder gar verrückt. Wie anderswo.

Zum Beispiel in Weißrußland! Man glaubt’s kaum: Aber da hat doch der Präsident jener Republik zwischen Polen und Jelzin-Reich, der Herr Lukaschenka, es fertiggebracht, die NATO- und EU-Botschafter aus ihren Residenzen zu verscheuchen, weil sie seiner eigenen Villa einfach zu nahe stehen. Zuerst hat er bloß gedroht, gleichzeitig aber einen Räumungsbefehl losgelassen, um die Damen und Herren aus dem zivilisierten Teil Europas aus ihren von ihm geleasten Bungalows zu vertreiben. Und als das nichts half, hörten Wasser und Strom auf zu fließen oder Bautrupps rissen Zufahrtswege auf.

Kein Zweifel: Lukaschenka ist unzivilisiert. Ein Verrückter auf dem Präsidentenstuhl. Durchgeknallte kommunistische Spätlese. Ein Wirrkopf, der die Gepflogenheiten in der diplomatischen Arena des westlichen Weltbürgertums einfach nicht akzeptieren will. Hat wahrscheinlich auch noch nie was von Habermas’ "Theorie des kommunikativen Handelns" gehört. Der ganze Mann ein einziges Bündel Irrationalität. Und sowas wird da Präsident. Natürlich, wo sonst?!

All das schoß mir durch den Kopf, während ich den Bericht sah. Ruhiger wurde ich erst, als ich mit den nächsten Bildern wieder in vertrautem Gelände ankam und spüren durfte: Nein, hier ist so etwas einfach nicht mehr möglich. Denn nun sah ich Bundeskanzler Kohl, bei irgendeiner Rede zu Ehren der Deutschen Mark und ihres 50. Geburtstages. Hörte, wie er sie und ihre Schöpfer lobte, pries, zum Maßstab machte; ein, nein: das deutsche Stabilitätssymbol in ihr sah – um sie dann, mit linksrheinischer Logik sozusagen (jener höchsten Stufe deutscher Rationalität seit Menschengedenken), zum Abschuß freizugeben!

Und wie um mein Glücksgefühl schier vollkommen werden zu lassen, erblickte ich in einer weiteren Sequenz einen deutschen Pastor. Nicht Hintze. Schorlemmer, sein Name. Ein Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels, ein Wittenberger Revolutionär aus dem Herbst 1989, Luther II. quasi. Aber zeitgenössisch eingefärbt, mit dem Mitgliedsbuch der SPD. Von Bundespräsident Herzog (CDU) kürzlich als deutscher Moral-Held in Paris vorgeführt. Ein Ausbund an demokratischer Konsensliebe und politischer Rationalität, wenn man sich nur an seinen Auftritt am 4. November 1989 erinnert, auf dem Berliner Alexanderplatz. "Für unser Land" redete er damals. Damit war jener Witz gemeint, der "eine bessere DDR" hieß.

Und nun sprach er wieder auf jenem Platz: "Aufstehn für eine andere Politik" das Motto. Furchtloser Gottesknecht, rief er mit mildem Lächeln sein "Aufstehn!" über ein Meer von roten Fahnen hinweg, die von Männern und Frauen getragen wurden, denen die Parteikürzel SED-PDS oder DKP Tränen des Stolzes in die Augen trieben. Als ich diese beiden deutschen Rationalisten so in ihrem Wochenendeinsatz für soziale Gerechtigkeit, nationale Interessen und europäische Friedenszukunft bewundern konnte, da wurde mir urplötzlich klar: Armes Weißrußland, glückliches Deutschland!

Doch dann geschah etwa Merkwürdiges, was ich mir bis zur Stunde nicht so richtig erklären kann: Ganz gegen meine Gewohnheit, nach den täglichen TV-Nachrichten in meine Bibliothek zu rasen, um ein erstbestes Trostbüchlein zwischen Epiktet und Cioran als Kopfvalium zu mißbrauchen, stieg ich an diesem Wochenende in die entgegengesetzte Richtung, hinauf auf den Boden, wo meine Koffer stehen. Unruhig prüfte ich ihre Zahlenschlösser, Verschlüsse und Griffe, und fast hätte ich sie in dieser Nacht an mein Bett gestellt. Bis mir schließlich doch noch einfiel: Weißrußland ist, Gott sei’s gedankt, ziemlich weit weg, und Lukaschenka hat ja gar nicht mich gemeint.


 
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