© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Religionsfreiheit: Sekten-Enquete-Kommission legt Abschlußbericht vor
Emanzipationsnachhilfe
von Hans B. von Sothen

Die Enquete-Kommission "Sogenannte Sekten und Psychogruppen" hat am 19. Juni nach etwa zweijähriger Arbeit ihren Abschlußbericht dem Bundestag vorgelegt. CDU, FDP und SPD haben ihm zugestimmt. Auch die nicht stimmberechtigte PDS mit dem einschlägig bekannten Kommissionsmitglied Ulla Jelpke hat den Bericht gutgeheißen. Vor allem die SPD hatte sich für die Einsetzung der Enquete-Kommission bereits am 25. Oktober 1995 starkgemacht. Vermutete sie doch, daß es in Deutschland rund 600 Gruppierungen gebe, die einen "sektenähnlichen Charakter" hätten. Dem hatte sich auch die CDU/CSU-Fraktion angeschlossen. Man wähnte damals bei "Sekten und Psychogruppen" einen "Extremismus neuen Typs", der nicht in die bisherigen Kategorien Rechts- oder Linksextremismus eingeordnet werden könne. Sollte man zu dem Schluß kommen, daß die genannten Gruppen generell beobachtet werden müßten, so die eingesetzte Kommission im Dezember 1996, dann müsse man eben die Verfassungsschutzgesetze entsprechend
ändern.

Das wird wohl einstweilen nicht nötig sein, denn der Abschlußbericht stellt fest, daß keine Gefahr von den untersuchten Gruppen ausgehe. Gleichwohl ist eine Informations- und Dokumentationszentrale zur Überwachung religiöser und weltanschaulicher Minderheiten in Form einer Bund-Länder-Stiftung geplant. Nicht nur wegen dieses offensichtlichen Verstoßes gegen die im Grundgesetz verankerte Neutralitätspflicht des Staates in religiösen Dingen ist der Bericht in politischen und kirchlichen Kreisen äußerst umstritten.

Zwar soll auch das Kanzleramt gegen die Novelle sein, aber nur die Grünen sprachen sich schließlich eindeutig dagegen aus. Sie gaben zum Endbericht ein abweichendes Sondervotum ab, in dem die Abgeordnete Angelika Koester-Lossack und der von den Grünen bestellte Sachverständige, der Leipziger Religionswissenschaftler Hubert Seiwert, kritisierten, daß der Mehrheitsbericht sich "auf breitem Raum mit hypothetischen Erörterungen über ‘psychische Manipulation’ und ‘Konfliktpotentiale’" befasse, "die in einem eklatanten Widerspruch zu den tatsächlichen Befunden stehen". Die Behauptung, "gezielt kriminelles Verhalten" sei bei einigen Gruppen feststellbar, sei nicht durch Erkenntnisse gedeckt. Die Grünen hielten es "für politisch fahrlässig, durch unklare Formulierungen an latente gesellschaftliche Vorurteile gegenüber religiösen und weltanschaulichen Minderheiten zu appellieren. Massive und strafrechtlich relevante Vorwürfe müssen konkretisiert werden, weil sonst jeder gemeint sein kann." Damit werde der gesamte Bereich randständiger Gruppen "einem unzulässigen Generalverdacht" ausgesetzt.

Auch von konservativer und liberaler Seite wurde Kritik laut: Sechs Professoren kritisierten in einer gemeinsamen Erklärung den Abschlußbericht. Dazu zählen der frühere Verteidigungsminister Hans Apel (SPD), der Heidelberger Theologe Gerhard Besier, der Tübinger Psychologe Niels Birbaumer, der Züricher Philosoph Hermann Lübbe, der Kölner Jurist Martin Kriele und der Soziologe Erwin K. Scheuch. Sie warnen: "Der Staat ist in einer Offenen Gesellschaft kein Emanzipations-Nachhilfeinstitut. Er kann dem Bürger um seiner Freiheit willen nicht alle Lebensrisiken abnehmen". Sie kritisieren insbesondere, daß auch Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte der beiden Amtskirchen in der Enquete-Kommission als Sachverständige von seiten der Parteien ernannt worden sind, und beanstanden: "Die Sektenbeauftragten der protestantischen Amtskirche haben jetzt die Möglichkeit, mit über jene zu befinden, die in weltanschaulicher Konkurrenz zu ihnen stehen und mit denen sie seit Jahren vor deutschen Gerichten prozessieren."

Die Sorgen sind berechtigt, denn es geht nicht mehr nur um das Verhalten von Scientology, Neuapostolischer Kirche oder der Zeugen Jehovas, auch freikirchliche Gemeinden, Baptisten, Pfingstler oder Mennoniten stehen hier mit einem Mal im Rampenlicht. Die linke taz ließ sogar kritisieren, daß bedauerlicherweise nicht auch "die Aktivitäten der sektiererischen Gruppen innerhalb der beiden großen Kirchen auf die Tagesordnung" der Enquete-Kommission gesetzt worden sei. Es ist klar, was gemeint ist: bei den Evangelischen das breite evangelikal-pietistische und charismatische Spektrum, bei den Katholiken mißliebige Ordensgemeinschaften wie Opus Dei und andere.

Charakteristisch für die ganze Arbeit, so der Kölner Jurist Kriele, sei ein Fragenkatalog, den die Kommission verschiedenen Organisationen zugesandt hat. Besonders hervorgehoben werden da "Konflikte durch derivate Lebensformen". Zu diesen rechnet sie allen Ernstes: geistige Übungen, Vegetarismus, Ablehnung von Drogen, Einschränkung sexueller Aktivität oder auch freie Sexualität, Schaffung eigener Kindergärten, Schulen, Hochschulen, und ähnliche unerhörte Verhaltensweisen. Durch solche Kriterien wird der Extremismusbegriff erneut verräterisch ausgeweitet. Adornos F-Scale läßt grüßen.

Das Problem Scientology war 1995 der eigentliche Auslöser für die Einsetzung der Enquete-Kommission. Doch die sechs Professoren halten diese Begründung für vorgeschoben. Die einseitige Thematisierung dieser Gruppe, so ihre Erklärung, erfülle offensichtlich die Funktion, "als eine Art ‘Dosenöffner’ für den Gesamtbereich der ‘Sog. Sekten und Psychogruppen’ zu dienen".

Die Einrichtung einer Bund-Länder-Stiftung – das einzig greifbare Ergebnis der Enquete-Kommission – sei nicht nur, so der Kölner Soziologe Erwin K. Scheuch und der Berliner Superintendent a.D. Woronowicz, ein "grober Verstoß gegen das staatliche Neutralitätsgebot". Die kirchliche Inquisition gegen konkurrierende Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften solle offenbar zur Staatsaufgabe gemacht werden. Scheuch vermutet, ein "Gesinnungs-TÜV" sei geplant.

Für den Fall, daß religiöse Gemeinschaften in den staatlichen Bereich hineinwirken und diesen zu beeinflussen versuchen, gibt es schon jetzt eine einfache Lösung: sie sind zu behandeln wie jeder andere auch. Wenn also bei einer Religionsgemeinschaft der Verdacht besteht, sie nötige andere Menschen, so gibt es dafür im Strafgesetzbuch einen einschlägigen Paragraphen, der zur Anwendung zu bringen ist.

Martin Kriele, einer der sechs Professoren, die gegen den Bericht protestierten, hat in der angesehenen Zeitschrift für Rechtspolitik grundsätzlich ein rechtsstaatliches Herangehen an die Materie empfohlen: "Entweder begeht eine Organisation rechtswidrige oder gar kriminelle Handlungen, dann ist mit aller Entschiedenheit durchzugreifen. Oder es liegt nichts Derartiges vor, dann ist sie in Frieden zu lassen."


 
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