© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
Pankraz, Madame Dubarry und das Vorbild für die reife Jugend

Bei der Lektüre des "Schwarzbuchs" über den Terror der Kommunisten und die hundert Millionen Opfer, die er gefordet hat, mußte Pankraz einige Male an Madame Dubarry denken, und zwar immer dann, wenn wieder einmal geschildert wurde, wie sich Menschen völlig widerstandslos abschlachten ließen. Man holte sie nachts aus ihren Betten, lud sie auf Lastautos, fuhr sie zur "Hinrichtungsstätte", ließ sie ihre eigenen Gräber ausheben, ließ sie sich zur Erschießung in Reihe aufstellen – und sie machten alles mit, boten sich mit stolzem Schweigen ihren Henkern dar! Madame Dubarry war da wahrhaftig von anderem Karat.

Dabei war es auch zu ihrer Zeit, während der französischen Revolution von 1793, üblich, sich widerstandslos abschlachten zu lassen. Die von den Wohlfahrtsausschüssen für die Guillotine bestimmten Aristokraten und Girondisten taten keinen Mucks, wenn man ihnen vor dem Köpfen den Nacken ausrasierte; während der Fahrt auf dem Henkerskarren scherzten sie mit ihren Bewachern, angesichts des Blutgerüsts verzogen sie nur die Mundwinkel, stiegen ohne Zögern die Stufen hinauf und legten den Kopf mit stolzem Lächeln über die stinkende Blutrinne. Madame Dubarry war da von ganz und gar anderem Karat.

Sie verstand einfach nicht, warum und daß man sie umbringen wollte. Gewiß, sie war eine ziemlich spektakuläre Mätresse des französischen Königs Louis XV. gewesen, aber das war ja schon lange her, über zwanzig Jahre war das her! Und sie hatte seitdem still und zurückgezogen im Kloster Pont-aux-Dames gelebt, hatte keiner Fliege etwas zuleide getan!

Und nun kamen plötzlich die Büttel vom Wohlfahrtsausschuß, sagten, sie sei "wegen konterrevolutionärer Verbindungen" zum Tode veurteilt, wollten sie auf den Henkerskarren stoßen, wollten ihr wehtun. Sie wehrte sich, sie kratzte und biß um sich, sie schrie und barmte, tagelang barmte und schrie sie, nächtelang, nur hin und wieder unterbrochen durch unruhigen Erschöpfungsschlaf.

 

Sie war damals eine dicke, kräftige Frau von fünfzig Jahren, und die Todesangst (oder besser: die vulkanische Wut darüber, daß man sie völlig sinnloserweise umbringen wollte), verlieh ihr zusätzliche Kräfte. Die Henkersknechte konnten sie nur mit gröbster Gewalt bändigen, fünf Kerle waren dazu nötig. Und als man sie endlich auf den Karren und bis vor das Blutgerüst gebracht hatte, verzehnfachten sich ihre Kräfte noch einmal, sie zerriß ihre starken Fesseln, wollte flüchten, man mußte die bis zuletzt Tobende wie einen Rollschinken buchstäblich in Stücke hacken.

Henri Sanson, der unheimliche, unheimlich tugendhafte Oberhenker von Paris, berichtet in seinen berühmten Memoiren mit Ausdrücken tiefsten Schauderns über die Aufführung der Madame Dubarry bei ihrer Hinrichtung. Er schildert die Mühen seiner Knechte mit der "fetten, rasenden Megäre", und er erzählt, wie das zuschauende "Volk", also die die Guillotine wie Geier umlagernden Sansculottenweiber, die sonst jeden ankommenden Delinquenten mit Hohngelächter überschütteten und jeden rollenden Kopf mit Triumphgeschrei bedachten, bei der Schlachtung der Dubarry "betroffen geschwiegen" hätten.

Wenn sich alle Todeskandidaten der Revolution, sagt Henri Sanson, wie Madame Dubarry verhalten hätten, dann wären die Hinrichtungen schnell zum Erliegen gekommen. Denn: "Kein Mensch hält so etwas auf Dauer aus". Ähnlich äußert sich übrigens Alexander Solshenizyn in seinem Buch "Archipel GULag" in Bezug auf die Massenmorde der Bolschewiken. Seufzend fragt er, weshalb die Opfer, für die es doch nicht die geringste Chance mehr gab, sich so adrett und so ernsthaft zu Tode bringen ließen, warum sie nicht lieber die Hinrichtungen durch Kratzen und Beißen in jene blutige Theater-Farce verwandelten, die sie doch in Wirklichkeit waren.

 

Wahrscheinlich, vermutet Pankraz, war eben auch in diesen Delinquenten noch der Respekt vor dem "Opfer an sich" lebendig, jenem Opfer, mit dem die Menschen in geschichtlicher Frühzeit die Götter zu versöhnen und gnädig zu stimmen suchten. Der Stamm im Ganzen "entsühnte" sich damals durch das Opfer, und das "Opferlamm" war Teil der heiligen Zeremonie, war sogar Zentralpunkt und Hauptperson, Gottes Auge ruhte auf ihm, und so konnte es mit seinem Opfer einverstanden sein.

Solches Gefühl lebt ja in fast jedem "normalen" Hinrichtungsopfer, das in einem langwierigen, mehr oder weniger rechtsstaatlichen Kriminalprozeß verurteilt worden ist und nun, mit geistlichem Trost versehen, auf sein letztes Stündlein wartet. Auch die schnödesten Raubmörder in den Todestrakten amerikanischer Gefängnisse sehen sich als Opfer, wenn sie schließlich auf den Tisch mit der Giftspritze geschnallt werden, die Waage der Gerechtigkeit wird durch ihr Opfer wieder ins Lot gebracht, und so mag es seine (makabre) Ordnung haben, wenn sie die Tötungsprozedur gefaßt über sich ergehen lassen.

Was aber für die "normalen" Hinrichtungsopfer gilt, das gilt für die Opfer revolutionärer, die Götter frech verhöhnender Erschießungskommandos noch lange nicht. Diese sind ihren Henkern nicht das geringste schuldig, im Gegenteil: Indem sie gelassene, souveräne Miene zum durch und durch bösen Spiel machen, erleichtern sie den Verbrechern nicht nur die Arbeit, sondern machen sich letztlich zu Komplizen, verschaffen denen eventuell Genugtuung im Bewußtsein, mit ihren Genickschüssen einer irgendwie erhabenen Idee gedient zu haben und "nach getaner Arbeit" mit stolz geschwellter Brust zum Umtrunk schreiten zu können.

Als Prototyp des törichten, sich zum Komplizen seiner Mörder machenden Hinrichtungsopfers nennt Solschenizyn Bucharin, den zweifellos klugen und auch mutigen Parteitheoretiker, den Stalin als "Rechtsabweichler" umbringen ließ. Verglichen mit diesem Bucharin war die Operettenfigur Madame Dubarry tatsächlich die eindrucksvollere Nummer.


 
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