© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    27/98 26. Juni 1998

 
 
"Schwarzbuch des Kommunismus": Eine öffentliche Diskussion und ihre Schwierigkeiten
Ideologisch vermintes Gebiet
von Albrecht Roeder

Die Berliner Urania ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Etwa 1.000 Zuhörer drängen sich im großen Saal, und viele, die keine Karte mehr bekommen haben, müssen unverrichteter Dinge wieder nach Hause gehen. Auf dem Programm steht eine Podiumsdiskussion zum Erscheinen der deutschen Ausgabe des "Livre noir du communisme", des Buches, das in Frankreich für Aufregung unter den Intellektuellen sorgte und schon Monate vor Erscheinen der deutschen Übersetzung die Feuilletons der deutschen Zeitungen beschäftigte, nachdem die Zeit mit einem Dossier die Diskussion eröffnet hatte.

Auf dem prominent besetzten Podium sitzen an diesem Abend neben dem Herausgeber und Mitautor des Buches, Stéphane Courtois, auch der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck (in der deutschen Übersetzung des "Schwarzbuches" mit einem eigenen Beitrag zum DDR-Unrecht vertreten), sowie die Historiker Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka und Wolfgang Wippermann. Moderiert wird die Veranstaltung vom Herausgeber des liberalen Berliner Tagesspiegel, Hermann Rudolph.

Die Situation im Saal droht zu eskalieren

Die Geduld des Publikums wird auf eine harte Probe gestellt. Zu Beginn der Veranstaltung verschaffen sich Mitglieder einer "Antifaschistischen Aktion" lautstark Gehör. Die Vorstellung der Podiumsteilnehmer geht in einem gellenden Pfeifkonzert von etwa 50 Jugendlichen unter, die zwei Transparente mit der Aufschrift "Es lebe der Kommunismus!" und "Wer zählt die Opfer des Kapitalismus?" entrollen und dazu altbekannte Sprüche wie "Nie wieder Deutschland!" skandieren.

Unmut regt sich im Saal, viele der Zuhörer stehen auf, fordern lautstark den Beginn der Veranstaltung, beschimpfen die jungen Leute als "rote Faschisten". Die Situation droht zu eskalieren. Eine junge Frau ruft erregt in Richtung des Veranstalters: "Nun tun Sie doch was!" Das ist aber gar nicht so einfach. Hermann Rudolph, sichtlich bemüht, vor den "kritischen" jungen Leuten und den zahlreich anwesenden Pressevertretern keinen Fehler zu machen und seine tolerante Haltung unter Beweis zu stellen, braucht 20 Minuten, bis er die Lage durch beschwichtigendes Zureden einigermaßen unter Kontrolle gebracht hat.

Doch die Ruhe ist trügerisch. Auch der zweite Versuch, die Podiumsteilnehmer vorzustellen, endet erfolglos. Zwar wird Wippermann, der publizistisch schon mal gemeinsame Sache mit Linksextremisten macht, von den Störern erwartungsgemäß mit Applaus gefeiert. Auch die Namen Kocka und Winkler kann man noch verstehen. Doch bei Courtois, als einziger betont lässig ohne Krawatte erschienen, verlieren die jugendlichen Störer, mehrheitlich "Söhne und Töchter besserverdienender Wessis", so Gauck, vollends die Beherrschung, trillern und pfeifen, bis ihnen fast die Luft wegbleibt. Courtois, ein ehemaliger Maoist, muß sich, ohne daß er auch nur ein Wort gesagt hätte, lautstark als "Nazi" beschimpfen lassen, was er mit einem Lächeln zur Kenntnis nimmt. Als auch die Vorstellung von Joachim Gauck in einem Pfeifkonzert untergeht, macht der Veranstalter von seinem Hausrecht Gebrauch und läßt etwa 15 der aktivsten Störer durch die Polizei hinausführen.

Mit etwa einer halben Stunde Verspätung kann die angekündigte Podiumsdiskussion über das "Schwarzbuch des Kommunismus" beginnen. Es ist die Diskussion über ein Buch, das zum ersten Mal den systematischen Versuch unternimmt, eine weltumspannende Darstellung der Verbrechen, des Terrors und der Unterdrückung vorzulegen, die unter dem Vorzeichen oder im Namen der kommunistischen Ideologie begangen wurden.

Courtois, der über eine Dolmetscherin zu den Leuten spricht, weist auf die veränderte Forschungssituation seit Öffnung der Archive im ehemaligen kommunistischen Machtbereich hin. Erstmals biete sich damit die Möglichkeit eines umfassenden, an Zahlen und Fakten orientierten Zugriffs auf die Praxis des Kommunismus, nachdem dieser bisher überwiegend theoretisch und philosophisch abgehandelt worden sei. Selbst diese schlichte Aussage können einige Zeitgenossen offenbar nicht verkraften. Noch während seiner französischen Ausführungen wird Courtois erneut lautstark von Pfiffen unterbrochen. Darauf aus dem Publikum: "Warum pfeifst du denn? Du hast doch gar nichts verstanden."

Pfiffe und Buh-Rufe, aber auch viel Applaus


Das von einem französischen Historikerkollektiv erstellte Schwarzbuch breitet auf über 800 Seiten eine unglaubliche Fülle von Material über den Kommunismus in allen Teilen der Welt aus. Mit 80 bis 100 Millionen bezeichnet Courtois die Zahl der Opfer, die er 25 Millionen Opfern des Nationalsozialismus gegenüberstellt. Ausdrücklich vergleicht Courtois, auf den mehr als zehn Jahre zurückliegenden Historikerstreit um Thesen des Berliner Historikers Ernst Nolte anspielend, den "Klassen-Genozid" der Kommunisten mit dem "Rassen-Genozid" der Nazis, hütet sich jedoch vor einer Gleichsetzung.

Einen Vergleich von Nationalsozialismus und Kommunismus hält auch Winkler für dringend geboten, weist aber darauf hin, daß die Auseinandersetzung auf "ideologisch vermintem Gelände" stattfinde, nachdem der Antifaschismus lange Zeit als identitätsstiftende Klammer innerhalb der Linken gegolten habe.

Nun meldet Wippermann sich zu Wort. Er wird nicht von Buh-Rufen und Pfiffen unterbrochen. Zornig und zugleich sichtlich um seinen wissenschaftlichen Anspruch als Hochschullehrer bemüht, schleudert er fünf vorbereitete Thesen in den Raum. Er wirft Courtois vor, "Geschichtsschreibung mit dem Taschenrechner" zu betreiben, Mordgeschichten ohne Unterscheidung der Ursachen aneinanderzureihen und im Zweifelsfall die Zahl der kommunistischen Opfer hoch-, die der nationalsozialistischen herunterzurechnen. Die Absicht des Schwarzbuches sei es, so unterstellt Wippermann, die gesamte politische Linke zu delegitimieren durch "Gleichsetzung des kommunistischen Klassen- mit dem nazistischen Rassenmord". (Applaus!) Wie aber könne man die wissenschaftlich begründete Theorie des Kommunismus mit dem mörderischen Biologismus eines Alfred Rosenberg gleichsetzen? Wie könne man die "nicht nachweisbar intendierten" Opfer der Hungersnöte in der Ukraine und in China mit den planvoll ermordeten Juden vergleichen und noch dazu die Opfer des verbrecherischen Angriffskrieges der deutschen Wehrmacht gegen die Sowjetunion unberücksichtigt lassen? ("Soldaten-sind-Mörder!"-Rufe.) Und als Courtois sich, provoziert von Wippermann, zu der Aussage verleiten läßt, der Staat Israel nutze den Holocaust teilweise zu seinen Gunsten aus, bringt das bei Wippermann das Faß vollends zum Überlaufen: "Herr Courtois, ich erwarte von Ihnen, daß Sie noch heute abend diese Aussage öffentlich zurücknehmen." Tumult, Pfiffe, Applaus. Die Veranstaltung droht zu einem Symposium über den Holocaust zu werden.

Winkler merkt an, daß das höhere intellektuelle Niveau des Kommunismus im Vergleich etwa zum primitiven Antisemitismus keine Rechtfertigung für irgendein kommunistisches Verbrechen sein könne. Die Erschießung der 4.000 polnischen Offiziere im Wald bei Katyn durch das höhere intellektuelle Niveau einer wie immer gearteten Begründung rechtfertigen zu wollen, sei blanker Zynismus. Der instrumentalisierte Antifaschismus der Linken dürfe nicht dazu führen, eine Aufarbeitung des Kommunismus zu verhindern.

Gauck, mit sichtlicher Freude an der Provokation, setzt mit der Ansicht, Terror sei für kommunistische Systeme und Regime essentiell und es bedürfe nicht der Morde, um den Kommunismus zu delegitimieren, noch einen drauf. Er bemerke bei der Linken ein erschreckendes Unvermögen, eigene Schuld anzuerkennen, eine Unfähigkeit zu trauern. Und er befürchte, daß es, ähnlich wie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, erneut 20 bis 30 Jahre dauern werde, ehe eine Aufarbeitung des kommunistischen Unrechts möglich sei. Pfiffe und Buhrufe machen an dieser Stelle die Fortsetzung der Veranstaltung unmöglich, woraufhin erneut die Polizei eingreifen muß.

Differenzierte Debatte zum Totalitarismus


Nun schließt sich eine differenzierte Totalitarismusdebatte an. Kocka plädiert für eine Abstufung des Totalitarismusbegriffs, verlangt, die Systeme Stalins, Maos und Pol Pots nicht mit Ländern wie der DDR, Polen, Kuba und Nicaragua in einen begrifflichen Topf zu werfen. Vor allem die späte DDR der 70er und 80er Jahre sei nicht mehr als totalitäres System zu bezeichnen.

Für Wolfgang Wippermann ist Totalitarismus durch die Gleichzeitigkeit von Terror und Ideologie bestimmt. Er zitiert Hannah Arendt, für die der Totalitarismus mit Hitler und Stalin zu Ende gewesen sei. Die DDR sei kein totalitäres System gewesen und der Vergleich mit dem Nationalsozialismus gefährlich und abwegig. "Hier wird Geschichtsklitterung betrieben!"

So einfach will es sich Winkler nicht machen. Für ihn ist die DDR bis zuletzt ein totalitärer Staat gewesen, wenn auch mit den Terrorsystemen Stalins und Hitlers nicht zu vergleichen. Er sieht einen großen Aufklärungsbedarf nicht nur in Frankreich, wo der Kommunismus nach wie vor en vogue sei, sondern auch in Deutschland, wie der Verlauf des Abends deutlich gezeigt habe. (Erneut Buh-Rufe und Pfiffe.)

Jürgen Kocka warnt abschließend vor Siegermentalität und Überheblichkeit im Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Die gleiche Gefahr gehe jedoch auch von einer undifferenzierten Verklärung aus, was Joachim Gauck ein zustimmendes Kopfnicken entlockt.


 
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