© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Verurteilte Deutsche: Ein Historiker sucht die Akten in russischen Archiven
"Einach kurzen Prozeß gemacht"
von Peter Krause

 

Herr Dr. Wagenlehner, wie sind Sie dazu gekommen, in russischen Archiven zu forschen?

WAGENLEHNER: Zehn Jahre Gefangenschaft haben mein Leben geprägt: Gegen den Kommunismus, für Rußland! Ende 1992 flog ich beim Staatsbesuch des Bundeskanzlers mit nach Moskau, fand dort in den Archiven meine eigene Akte: 100 Seiten. Das war der Beginn. Als nächstes mußten hier die Voraussetzungen geschaffen werden, finanziell und technisch. Die Bundesregierung war bereit, mit meinem – eigens dazu gegründeten – Institut Verträge zu schließen. Dadurch bin ich wiederum berechtigt, mit der russischen Seite Verträge zu schließen. Die Ergebnisse der Arbeit werden der Bundesregierung zur Verfügung gestellt. Ich fungiere auch als Auskunftsstelle für die Betroffenen und ihre Ange-
hörigen.

 

Um welche Akten handelt es sich dabei?

WAGENLEHNER: Es geht zunächst um die Akten deutscher Kriegsgefangener sowie Internierter, die jeweils verurteilt wurden. Für alle diese Gefangenen gibt es eine Personalakte. Mit Hilfe meiner 25 russischen Mitarbeiter lege ich für jeden Verurteilten einen Datensatz an. Es sind drei Archivbereiche zu unterscheiden: Erstens der Staatliche Archivdienst; da sind 2.500 Archive, von denen einige für uns interessant sind. Hier sind enthalten die etwa 37.000 Personalakten von verurteilten Deutschen. Der zweite Bereich ist das Zentralarchiv des Innenministeriums, mit den 25 Millionen Strafakten aller Prozesse in der Sowjetunion. Diese Zahl ist jedoch nicht identisch mit der Zahl der Angeklagten oder Verurteilten. Das waren wesentlich mehr, denn jeder Prozeß hat nur eine Akte, egal für wieviele Angeklagte. Und von den 25 Millionen sind 24.000 Prozesse gegen Deutsche geführt worden: Zivilverurteilte und Kriegsgefangene. Diese Akten sind mir ebenfalls zugänglich. Der dritte Bereich ist der schwierigste: der Förderale Sicherheitsdienst (FSB), also der Nachfolger des KGB. Hier liegen viel mehr Akten, als ich angenommen habe: nämlich von 50.000 bis 60.000 Verurteilten. Mit dem FSB haben wir seit dem 31. März 1998 einen Vertrag.

 

Wieviele Deutsche wurden verurteilt?

WAGENLEHNER: Wir müssen jetzt 90.000 Verurteilte annehmen, von denen 55.000 Zivilisten und 35.000 Kriegsgefangene waren. Das ist viel mehr, als der russische Generalstaatsanwalt bisher angegeben hatte. Die hohe Zahl der Zivilisten ist überraschend.

 

Ist es denkbar, daß Akten vernichtet wurden?

WAGENLEHNER: Als ich 1992 die ungeheuren Menge Papier sah, stellte ich die Frage: Weshalb habt ihr das alles aufgehoben? Die Antwort lautete: Es hat niemand befohlen, wegzuwerfen. Und das ist glaubhaft. Auf den 25 Millionen Strafakten steht auf jeder einzelnen rechts oben: "Aufzubewahren für ewig".

 

Haben Sie Zugang zu allen Archiven?

WAGENLEHNER: Das ist sehr unterschiedlich. Die größten Schwierigkeiten gibt es beim FSB. Um auswerten zu können, müssen drei Dinge vorhanden sein: Vollmachten der eigenen Regierung, Geld für Joint-Venture-Verträge und schließlich Vertrauen.

 

Und Vertrauen haben die Russen zu Ihnen?

WAGENLEHNER: Ja. Russen wollen immer wissen, woran sie sind. Bei mir ist das klar: Ich war Antikommunist – und ich bin dafür verurteilt worden. Nun ist das vorbei, ich versuche mitzuhelfen, das deutsch-russische Verhältnis zu verbessern. Meine Gesprächspartner wissen, daß sie sich auf mein Wort verlassen können. Denn es geht um heikle Dinge. In den Akten stehen unangenehme Sachen für Rußland. Aber wir haben viel erreicht: 7.000 Rehabilitierungen. Und wir werden demächst Generaloberst Djormin hier haben: der erste Hauptmilitärstaatsanwalt aus Moskau, der nach Deutschland kommt.

 

1948 wurden die Kriegsgefangenen zu Kriegsverbrechern erklärt, wie kam das zustande?

WAGENLEHNER: Der Apparat, KGB und MWD, wollte 1948 verhindern, daß – wie von der Sowjetregierung zugesagt – bis Ende 1949 alle deutschen Kriegsgefangenen nach Hause fahren. So bereitete er die Massenverurteilung vor. Am 28. September 1949 traf Stalin die Entscheidung: Es müssen noch 17.000 Kriegsgefangene nach UKAS 43, also "Kriegsverbrechen", zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt werden. Wer dazu bestimmt ist, aber seine Schuld nicht eingesteht, wird über Paragraph 17, "Beihilfe", quasi auf Verdacht verurteilt. Die Zugehörigkeit zu einer Einheit wie "Brandenburg", "Großdeutschland", Waffen-SS etwa genügte zur Verurteilung, die dann 5 bis 10 Minuten dauerte. Am 17. März 1950 stellte Stalin fest, es wären zu viele veurteilt worden, und erlaubte dem Innenminister, 5.000 frisch Verurteilte nach Hause zu schicken. Natürlich kannten wir auch bisher die äußeren Abläufe. Jetzt aber erfahre ich aus den Befehlen und Akten, was dazu geführt hat. Übrigens hat sich das Empfinden für Unrecht in Rußland so entwickelt, daß jeder, der über Paragraph 17 verurteilt wurde, heute sofort rehabilitiert wird.

 

Wie verhält es sich mit den internierten Deutschen, die nicht verurteilt wurden?

WAGENLEHNER: Das ist ein schwer einsichtiger Komplex. Im neuen Vertrag mit dem FSB ist auch festgelegt, wenigstens die Karteikarten von 127.000 nicht verurteilten Lagerinsassen zugänglich zu machen. Es geht um Menschen, die man aufgrund verschiedener Befehle in den elf " NKWD-Speziallagern" in der SBZ eingesperrt hat, meist in den früheren deutschen Konzentrationslagern. Wir hoffen, innerhalb eines Jahres alle Daten zu besitzen.Wir werden dann wissen, wer interniert wurde. Die Russen sagen ja, die Hälfte von denen seien Funktionsträger der NSDAP gewesen. Tatsächlich war die Inhaftierung meist völlig willkürlich. Mindestens 43.000 Inhaftierte sind umgekommen, meist durch Hunger oder Krankheit. Die Lager wurden 1949/50 aufgelöst. Die vollständigen Akten aller 127.000 nichtverurteilten Inhaftierten befinden sich allerdings in Omsk in Sibirien, und da kommen wir nicht rein. Es gibt dann übrigens noch die Akten von 20.000 von sowjetischen Militärtribunalen Verurteilten, die ihre Strafe in der DDR weiter absitzen mußten. Auch diese Akten sind in Rußland.

 

Gibt es in den Archiven Unterlagen über die aus dem deutschen Osten Verschleppten?

WAGENLEHNER: Prinzipiell gilt, in der Sowjetunion ging damals nichts ohne Stalin. Es gibt etwa den Befehl vom Dezember 1944, Deutsche, wo immer man sie findet, zu verhaften und zu verschleppen. Wie viele es gewesen sind, ist bis heute unklar, aber es waren mindestens 500.000 Menschen. Aufgrund der üblen Behandlung ist weit mehr als die Hälfte verstorben. Das sind die Opfer, die am schlimmsten dran waren…

 

…es waren vor allem Frauen!

WAGENLEHNER: Richtig, sehr viele Frauen aus Ostdeutschland. Das ist ein Punkt, der bis heuten im argen liegt. Die Überlebenden dieser Lager bekommen kein Geld, sie sind bis heute vergessen, haben keine Lobby; selbst die Vertriebenenverbände haben sich nicht ausreichend gekümmert.

 

Werden diese Opfer in Rußland rehabilitiert?

WAGENLEHNER: Von den geschätzten 500.000 Verschleppten sind etwa 80.000 in Rußland registriert, die nach formeller Klärung rehabilitiert werden sollen. Das wird ein Problem für Deutschland, weil dann die Russen weiter gegangen sein werden als unsere Regierung.

 

In der neueren "Aufarbeitung" des Zweiten Weltkrieges, ich denke etwa an die Wehrmachtsausstellung des Reemtsma-Instituts, wird häufig auf sowjetisches Material zurückgegriffen. Wie authentisch sind diese Quellen?

WAGENLEHNER: Es gibt viel, was nur auf Propaganda beruht. So der gesamte Minsker Prozeß, der von Professor Messerschmidt im Buch zur Wehrmachtsausstellung dargestellt worden ist. Man weiß heute sicher, daß das russische Material reine Propaganda ist. Ein Jurist und Historiker wie Messerschmidt, immerhin ehemaliger Chef des Militärhistorischen Forschungsamtes, der so arbeitet, ist unmöglich. Reemtsma und Heer wollten nichts weiter, als mit Fotos schockieren. An Aufklärung oder Wahrhaftigkeit war niemals gedacht. Es sind ja genügend Fälschungen aufgedeckt worden. Diese private Ausstellung ist viel zu ernst genommen worden.

 

Haben Sie neue Erkenntnisse für die Geschichtswissenschaft aus Moskau mitgebracht?

WAGENLEHNER: Wir finden immer mehr Akten über Deutsche, die einfach ohne jede Begründung erschossen worden sind. Und die Verfahrensweise der Sondergerichte ist aktenkundig, die ab 1945 die Prozesse in der SBZ, dann DDR führten. Die Prozesse verliefen immer nach dem gleichen Muster: Drei bis vier Tage vor der richtigen Verhandlung fand eine Probeverhandlung statt. Dort wurde beschlossen, wie das Urteil aussehen sollte, und ein genaues Strafmaß festgelegt.

 

Wie hat sich der Umgang mit der eigenen Vergangenheit in Rußland verändert?

WAGENLEHNER: Es gibt viel mehr Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, als man hier annimmt. Da gibt es die Pamjats, Gedächtnisbücher mit Namen, Fotos, Lebensläufen der Ermordeten, nach Gefängnissen, Friedhöfen oder Regionen geordnet. Es ist unglaublich, wie viele solche Bücher existieren. Selbst in der Zentrale des FSB sind Pamjats heute ausgestellt. Und seit Erlassung des Gesetzes 1991 über die Rehabilitierung der politischen Opfer gibt es vier Millionen Anträge. Und die Zahl wächst. Mir ist bei Vorträgen in der russischen Provinz eine große Aufgeschlossenheit begegnet, gerade für mich als Deutscher.

 

 

 

Dr. Günther Wagenlehner

wurde 1923 in Oederan/ Sachsen geboren; geriet 1945 als Leutnant der Wehrmacht in englische, nach Entlassung in der SBZ in sowjetische Kriegsgefangenschaft: Internierung in Bautzen und im Lager Mühlberg, Verschleppung in die Sowjetunion, nach zweimaligem Fluchtversuch und Beteiligung an einem Lageraufstand Verurteilung zu dreimal 25 Jahren Zwangsarbeit. Wagenlehner kehrte 1955 nach Deutschland zurück, studierte Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichte und Volkswirtschaft in Hamburg, wurde 1961 mit einer Arbeit über "Lenin zwischen Staat und kommunistischer Gesellschaft" promoviert. Von 1966 bis 1988 arbeitete er als Ostexperte und Verantwortlicher für psychologische Verteidigung im Bundesverteidigungsministerium. Er ist Mitbegründer der Vereinigung Europäischer Journalisten, war von 1982 bis 1994 Gastprofessor in den USA, veröffentlichte u.a.: "Stalins Willkürjustiz gegen die deutschen Kriegsgefangenen", Bonn 1993.

Günther Wagenlehner ist Direktor des Instituts für Archivauswertung (Kastanienweg 26, 53177 Bonn). Dieses Institut ist privater Rechtsnatur, handelt aber im Auftrag der Bundesregierung. Ziel ist, Unterlagen und Akten von allen während und nach dem Zweiten Weltkrieg von sowjetischen Militärtribunalen verurteilten Deutschen zu finden.


 
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