© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Fußball-WM 1998: Warum die Fans feiern und die Theologen staunen
Urhorden auf den Rängen
von Oliver Geldszus

Seit Mittwoch dieser Woche rollt der Fußball in zehn Stadien Frankreichs, und wieder einmal hält er die Welt in seinem Bann. Vermeintlich wichtige Dinge geraten an den Rand, selbst die Tagesnachrichten sind voll von Meldungen und Bildern, die bereits in den zahlreichen täglichen Sportsendungen gelaufen sind. Es ist, als würde die Politik eine Auszeit nehmen. Man weiß, daß südamerikanische Regierungen gern diese Gelegenheit nutzen, um unliebsame Entscheidungen durchzusetzen.

Fußball-Weltmeisterschaften sind alle vier Jahre wieder Volksweltfestspiele der besonderen Art, und sie werden zunehmend größer, bunter, vielfältiger. Nunmehr ist die Schmerzgrenze erreicht: In Frankreich treten 32 Mannschaften an, die Fans werden mit 64 Spielen an 32 Tagen beglückt oder auch überfordert. Die letzten großen Turniere wurden weltweit von schätzungsweise drei Milliarden Menschen verfolgt, mehr als die Olympischen Spiele Zuschauer hatten. Auch in Deutschland hat sich Fußball seit den dreißiger Jahren, als der Schalker Kreisel tanzte und bei der WM 1934 in Italien ein dritter Platz erreicht wurde, zur unumstrittenen Nummer eins entwickelt. Der Thron wackelte leicht, als in den 80er Jahren Steffi Graf und Boris Becker höhere Einschaltquoten erzielten als eine in dieser Zeit langweilig spielende Nationalmannschaft. Aber das ist mittlerweile vergessen. Längst ist der ehemalige Arbeitersport gesellschaftsfähig.

Bis zum Ersten Weltkrieg war es englischen Adelssöhnen beispielsweise verboten, sich dem proletarischen Gekicke hinzugeben; sie hatten in ihrer Freizeit Tennis, Polo oder Kricket zu spielen. Nach der Proletarisierung und Vermassung der Gesellschaft klingt das nur noch lächerlich und geradezu rührend. Wenn der Kanzler zu den wichtigen Spielen reist, Verona Feldbusch eine Strähne ihres pechschwarzen Haares als Glücksbringer dem Nationalteam mit auf den Weg gibt und Guildo Horn grüßen läßt, spätestens dann ist Fußball als allgemein anerkannt. Unterstützt wird das ganze durch ein ungeheures öffentliches Interesse, das von den Medien hervorgerufen oder verstärkt und gleichzeitig bedient wird.

Es erhebt sich dabei die Frage, worin die Faszination begründet ist. Am Ablauf der Spiele kann es eigentlich nicht liegen. In der vernunftgeleiteten Zivilisation dient Fußball aber auch als Ventil für Aggressionen und ungehemmte Leidenschaften. Es ist das Gefolge des Dionysos, das in den Stadienkurven Einzug hält und Apollo verdrängt. Das Spiel gibt dem Fußballfan die Möglichkeit, sich mit seinem Team zu identifizieren und seine Wünsche und Sehnsüchte darauf zu transformieren. Die Fangemeinde hat daher schon längst Ethnologen und andere Feldforscher auf den Plan gerufen.

Der englische Zoologe Desmond Morris erklärt Fußball kurzerhand zum "Stammesspiel". Wie in der Urgemeinschaft identifizieren sich die Fans mit ihren für sie kämpfenden Stammeskriegern. Sie streifen sich dieselben Trikots über wie ihre Helden auf dem grünen Rasen und schmücken ihre Gesichter mit Kriegsbemalungen in den Vereinsfarben. Hinzu kommen Mützen, Schals und Fahnen. Die Fangesänge sollen der eigenen Mannschaft Rückhalt geben und den Gegner verängstigen. Mit Hilfe uralter Mittel wie Narkotika (in der abendländischen Kultur fast immer Alkohol) sowie Tanz und Maske werden die Götter um Beistand gebeten wie einst um den Regen. Denn Fußball ist längst zu einem Gottesdienst mutiert; in ländlichen Gegenden hat er häufig die Sonntagsmesse ersetzt. In katholischen Kerngebieten Südamerikas und Südeuropas werden Fußballhelden wie Heilige verehrt, und sogar in England wird der Wembley-Rasen als "heilig" betrachtet. Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Musiksoziologen, die in letzter Zeit verstärkt das Phänomen der Fan-Gesänge untersuchten. Reinhard Kopiez stellt in seinem letzten Buch fest, daß die im Stadion in der Regel verwendete Drei-Ton-Musik in ihrer Einfachheit einen archaisch-religiösen Aspekt wie das Amen in der Kirche hat.

Mit dem Fußball siegen die chtonisch-religiösen Kräfte, die zum menschlichen Dasein gehören, gegen die Vernunft. Nach dem Niedergang der Kirche und der Rationalisierung von Gesellschaft und Politik ist er das Surrogat für alle unerfüllten Leidenschaften. Deshalb hat er in der zivilisierten parlamentarischen Demokratie, die Max Weber als rationale Herrschaftsform kennzeichnete, eine Kanalisationsfunktion.

Fußball aber ist ein barbarisches Spiel ähnlich den Gladiatorenkämpfen im alten Rom; er kennt eine potentielle Nähe zu Blut, Gewalt und Krieg. Der italiensiche Philosoph Liciano de Crescenzo folgert: "In Europa hat es lange keinen Krieg mehr gegeben, und deshalb dient die WM den Leuten als eine Art Ersatzkrieg." Man denke nur an die beiden Halbfinals zwischen Deutschland und Frankreich von 1982 und 1986 mit ihren Ressentiments vor allem auf französischer Seite. "Bier schlägt Champagner", titelte damals L’Equipe überheblich und gekränkt. Siege gegen Deutschland sind für die Holländer immer wieder aufs Neue eine Vergangenheitsbewältigung.

Im Zeitalter der Globalisierung ist der Fußball ein letzter Hort nationaler Gefühle. Fußballfans stehen der Nation näher, weil sie empfänglicher sind für ihren Mythos und Symbole. Intellektuelle, die der Faszination des Fußballs erlegen sind, sind in der Regel potentiell "rechts". Denn der Fußball bietet den Raum für eine nationale Identität, den sich die Politik zunehmend versagt. Während des kalten Krieges durfte man nur hier noch "Deutschland" sagen, und selbst Reportern rutschte zuweilen ein "Tor für Deutschland!" über die Lippen.

Als die deutsche Mannschaft 1954 in Bern überraschend Weltmeister wurde, begleitete dieser Sieg nahezu perfekt die Wirtschaftswunderjahre und symbolisierte den nationalen Wiederaufstieg: man war wieder "wer"! Der WM-Triumph im Sommer 1990 in Rom fiel zeitgleich mit der deutschen Wiedervereinigung zusammen und wurde quasi zum Ausdruck des Willens zum nationalen Aufbruch. In den Städten Deutschlands spielten sich Szenen ab wie am 9. November 1989 in Berlin. Ähnlich war es nach dem EM-Sieg vor zwei Jahren in London. In dem Moment, in dem Oliver Bierhoff das "Golden Goal" schoß, gab es kein Ost und kein West mehr. Der Alltag kennt diese Gemeinschaftsgefühle nicht und läßt sie auch nicht zu. Daß sie vorhanden sind, demonstriert einmal mehr in diesen Tagen die Weltmeisterschaft. Es bleibt abzuwarten, wann die Politik wieder zum Ersatz-Fußball wird


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen