© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Indiens Atomwaffenpolitik: Geschichtliche Hintergründe und aktuelle Strategien
Die Anklagebank ist falsch besetzt
von Wolfgang Lasars

Über lange Zeit haben die Inder an einem Minderwertigkeitsgefühl gegenüber den Briten gelitten. Die lange Vorherrschaft der Briten und die schonungslose Unterdrückung des Aufstandes von 1857 hatten sie eingeschüchtert. Ein Waffengesetz verbot ihnen, Waffen zu tragen. In allem, was in Indien passierte, wurden sie erinnert, daß sie eine unterworfene Rasse waren. Sogar in der ihnen gewährten Erziehung wurde ihnen die Idee der Minderwertigkeit eingetrichter. (...) Der japanische Sieg war daher eine große Ermutigung für ganz Asien."

Mit diesen eindringlichen Worten beschrieb der große indische Staatsmann Jawaharlal Nehru 1932 die leidvollen Erfahrungen Indiens mit der britischen Herrschaft. Hoffnung schöpften die Völker Asiens damals aus dem Sieg Japans über Rußland 1904/05. Die Hauptursache für diesen Sieg eines asiatischen Staates über eine europäische Kolonialmacht sah Nehru in der Souveränität Japans: Während das unabhängige Japan seine Industrialisierung vorantrieb, versuchte die britische Kolonialherrschaft Indien als einen Agrarstaat und reinen Rohstofflieferanten zurückzuhalten. Um eine Ausbreitung von Fabriken in Indien zu verhindern, diktierten die Briten einen Zoll auf Maschinen, die nach Indien eingeführt wurden. Diese Politik der Obstruktion im letzten Jahrhundert trug dazu bei, daß sich auf dem Subkontinent eine moderne Industrie erst langsam entwickelt hat. Die 150jährige Bürde des Kolonialismus prägte die Entschlossenheit jeder Regierung in Neu-Delhi seit der Unabhängigkeit, sich nie wieder bevormunden zu lassen. Wenn westliche Kritiker die aktuelle Betonung der indischen Souveränität, die in den jüngsten Atomversuchen auch zum Ausdruck kommt, auf einen übertriebenen Nationalismus der hinduistischen Regierungs-partei BJP zurückführen, übersehen sie diesen historischen Hintergrund.

Wider die Bevormundung durch die Großmächte im Kalten Krieg und zum außenpolitischen Schutz der indischen Souveränität entwickelte Nehru den Gedanken der Blockfreiheit. Asien sollte sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen, nachdem die europäische Kolonialherrschaft schrittweise zurückgedrängt werden konnte. China und Indien waren laut Nehru dazu bestimmt, die Hauptantriebskräfte in dieser neuen Phase der Weltgeschichte zu werden.

Koloniale Traumata prägen Indiens Souveränitätswillen

In der Präambel des indisch-chinesischen Freundschaftsvertrages von 1954 formulierte Nehru erstmals offiziell die "Fünf Prinzipien" seiner Außenpolitik. Doch gerade in bezug auf China sollte er seinen größten außenpolitischen Rückschlag erleiden: Das "Reich der Mitte" erkannte die von Großbritannien einseitig festgelegte Grenze zwischen Indien und Tibet nicht an. Indiens unnachgiebige Haltung und die Errichtung eines Militärpostens im Herbst 1962 im Norden der umstrittenen Mc Mahon-Linie führten zu einem chinesischen Präventivschlag. Seine katastrophale Niederlage zwang Indien in größere Abhängigkeiten, es wandte sich an die USA und den übrigen Westen um Waffenhilfe. Nehrus Blockfreiheit wurde so unglaubwürdig. Ab 1971 lehnte sich Indien dann an die UdSSR an.

Zur Rechtfertigung der jüngsten Atomwaffenversuche warnte der indische Verteidigungsminister George Fernandes vor einer chinesischen Gefahr. Die Behauptung einer solchen Bedrohung ist jedoch nur ein vorgeschobener Grund: 1993 einigten sich Indien und China anläßlich eines Staatsbesuchs von Premierminister Rao in Peking, entlang der de facto-Grenze Frieden zu bewahren. Ihre Beziehungen verbesserten sich weiter, nachdem ein Jahr danach der chinesische Verteidigungsminister Chi Haotian und 1996 Präsident Jiang Zemin Indien Besuche abstatteten. Wenngleich das gegenwärtige indisch-chinesische Verhältnis von Mißtrauen und Distanz geprägt ist, eine aktuelle militärische Bedrohung durch China fürchtet Indien nicht.

Ein Vergleich der jüngeren Geschichte Indiens mit China offenbart einen tiefer liegenden Grund indischer Sorgen um die eigene Stellung in der Welt: die historische und bis in die Gegenwart hineinreichende Diskriminierung Indiens durch die westlichen Mächte. Der ganze Subkontinent wurde im wesentlichen von Großbritannien beherrscht, China hingegen wurde nur entlang seiner Küste und in einigen Großstädten besetzt. Während sich Königin Viktoria als "Kaiserin von Indien" und König George noch 1914 als "Kaiser von Indien" krönten, behielten die Chinesen ihren Kaiser, bis sie ihn in der Revolution von 1911 selbst absetzten. Nachdem Japan die vom Westen besetzten Gebiete Chinas erobert hatte und der Westen einen Bündnispartner gegen das aufstrebende ostasiatische Inselreich suchte, gab er während des Zweiten Weltkrieges seine kolonialen Vorrechte in China (mit Ausnahme von Hongkong und Macao) auf. Chinas Bedeutung wurde in der von den Siegermächten geschaffenen Nachkriegsordnung angemessen mit einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen anerkannt, und Chinesisch wurde eine der offiziellen Sprachen der Weltorganisation. Indien hingegen wurde nicht nur gegen seinen Willen vom Kolonialherrn in den Krieg gegen Deutschland gezwungen, sondern es mußte auch fortgesetzt um seine Unabhängigkeit kämpfen, die es erst 1947 erlangt hat. Über einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat verfügt das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde bis heute nicht.

Der Besitz von Atomwaffen ist vor allem ein Zeichen politischer Vormacht. Mit britischen Worten ausgedrückt, ermöglicht der Besitz dieser Massenvernichtungswaffen, "in einer höheren Gewichtsklasse zu boxen, als einem gewichtsmäßig zukommt". Die UdSSR, Großbritannien und Frankreich haben dem Besitz von Atomwaffen von Anfang an hohe Priorität beigemessen. Vor dem Hintergrund seiner ebenfalls leidvollen Erfahrung mit der Bevormundung durch imperialistische Mächte führte China 1964 Atomtests durch und wurde schließlich von den damaligen A-Waffen-Staaten als gleichberechtigter Kernwaffenbesitzer anerkannt. Der exklusive Fünferklub der Atommächte besteht seitdem aus dem nicht minder exklusiven Fünferklub der Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Indien ist beides verweigert worden.

Im Vertrag zur Nichtverbreitung nuklearer Waffen (Atomwaffensperrvertrag) von 1970 haben sich jene Staaten, die vor dem 1. Januar 1967 über Atomwaffen verfügten, dadurch ihre Vormachtstellung gesichert, daß sich Nichtkernwaffenstaaten zu einem dauerhaften Verzicht auf die A-Waffen verpflichteten. Von Anfang an hat Indien darauf hingewiesen, daß nur die Vernichtung von Atomwaffen in allen Kernwaffenstaaten ihr Gefahrenpotential für die Menschheit wirklich beseitigen würde. Im Hinblick auf das Konfliktrisiko gilt es zu bedenken, daß der bisher einzige Einsatz von Atomwaffen gegen einen Nichtkernwaffenstaat durchgeführt wurde.

Proteste gegen die "nukleare Apartheid"

Weil der Atomwaffensperrvertrag zunächst für 25 Jahre abgeschlossen war, mußte auf der Überprüfungskonferenz 1995 über eine Verlängerung entschieden werden. Zur Sicherung ihrer atomaren Vormacht sprachen sich die Kernwaffenstaaten für eine unbefristete und unbedingte Verlängerung aus. Beim anschließenden Vertrag über ein umfassendes Verbot von Atomwaffenversuchen aus dem Jahre 1996 weigerten sich die USA, Rußland, China, Großbritannien und Frankreich ebenfalls, einem verbindlichen Zeitplan für die Abrüstung ihrer A-Waffen zuzustimmen, wie er von Indien standhaft gefordert worden war. Sämtliche von einem humanistischen Standpunkt aus zu begrüßenden Bemühungen Indiens, die Kernwaffenstaaten zu einer verbindlichen atomaren Abrüstung zu bewegen, sind gescheitert. Im Ergebnis wurde der Subkontinent von den anerkannten Atomwaffenbesitzern für sein 24jähriges Warten nach seinem ersten Atomtest 1974 nicht belohnt.

Noch in den Jahren 1995 und 1996 führten die Kolonialmacht Frankreich in Polynesien und die Volksrepublik China auf ihrem eigenen Staatsgebiet Atomwaffenversuche durch. Im Unterschied zu der aufrechten Haltung Neu-Delhis brachte Bonn nicht einmal den Mut auf, im Angesicht der französischen und chinesischen Versuche in der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1995 für ein sofortiges Ende aller Atomtests zu stimmen, sondern enthielt sich.

Die fortgesetzte Ungleichbehandlung im Vergleich zu China und der rücksichtslose Vormachtanspruch der Kernwaffenstaaten gegenüber dem Rest der Welt sind für Indien inakzeptabel. Unter der hellsichtigen Überschrift "Testopfer: Die US-Strategie" erkannte die amerikanische Zeitung International Herald Tribune am 13. Mai das Hauptziel der indischen Atomwaffenversuche: "Im weiteren strategischen Sinne stellen die indischen Explosionen eine offene Ablehnung der Bemühungen der fünf anerkannten Nuklearmächte dar, alle anderen Staaten zu überzeugen, daß ihre Sicherheit vermindert und nicht verstärkt wird, wenn sie offen Nuklearkapazitäten erlangen."

Die indischen Atomtests lenken den Blick auf die anerkannten Kernwaffenstaaten und provozieren zu der Frage, wie lange diese noch an der – mit den Worten des indischen Premierministers Vajpayee gesprochen – "nuklearen Apartheid" festhalten wollen.

Zuletzt hat sich die kompromißlose Haltung der etablierten A-Waffen-Mächte in ihrer Genfer Entschließung vom 4. Juni gezeigt. Letzten Samstag schloß sich dann auch der von den USA maßgeblich beeinflußte Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dieser Verlautbarung an, indem die Atomversuche Indiens wie Pakistans einstimmig verurteilt und beide Staaten nachdrücklich aufgefordert wurden, dem Sperrvertrag sowie dem Atomteststopp-Abkommen beizutreten. Doch unter der Oberfläche der vermeintlich einhelligen Ablehnung der Atomwaffenpolitik Indiens und Pakistans machten sich auch kritische Stimmen bemerkbar: Kanada bemängelte den offensichtlichen Unwillen der offiziellen Atommächte, ihre im Sperrvertrag zugesagten Abrüstungsversprechen zu erfüllen. Der Iran und Ägypten kritisierten die Haltung der tonangebenden Länder gegenüber Israel, vor dessen Atomwaffenprogramm die Augen verschlossen würden und das ungerügt dem Sperrvertrag fernbleiben könne.

Wenig spricht dafür, daß von dem Außenministertreffen der G8-Staaten in London an diesem Freitag, bei dem die Atomwaffenpolitik Indiens und Pakistans das zentrale Thema ist, Signale eines Umdenkens zu erwarten sind.


 
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