© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Südtirol: Die italienische Sprachgruppe unterliegt einer permanenten Fluktuation
Radikaler Bevölkerungsaustausch
von Peter Paul Rainer

Der italienische Journalist Riccardo Dello Sbarba machte jüngst mit zwei Artikeln auf bisher von Südtiroler Seite ignorierte Aspekte der gesellschaftspolitischen Zusammensetzung und eines radikalen Bevölkerungsaustausches der italienischen Sprachgruppe in Südtirol aufmerksam. Wesentlich sind nicht seine Schlüsse, sondern allein der Umstand, daß er Themen aufgriff, mit denen sich alle, denen die Zukunft Südtirols ein Anliegen ist, auseinandersetzen werden müssen. Allein die Tatsache, daß die angeschnittenen Detailfragen bisher nicht Gegenstand allgemeiner Erörterung waren, macht deutlich, wie sehr die Sprachgruppen in Südtirol aneinander vorbeileben. Daß ihre Thematisierung von Südtiroler Seite selbst nach diesen Artikeln ausblieb, zeigt, wie sehr die Diskussion zur Europaregion Tirol noch immer eine Einbahnstraße ist.

In der Südtiroler Wochenzeitung FF 9/98 stellte Dello Sbarba die Frage, für welche Partei die italienischen Polizei- und Militärangehörigen in Südtirol votieren. Angesichts der im Herbst stattfindenden Landtagswahlen, eine mehr als berechtigte Frage. Sie war Anlaß, das Wählerpotential dieser fast ausschließlich italienischen Gesellschaftsgruppe näher zu beleuchten: 1990 waren 7.690 hauptamtliche Mitarbeiter der verschiedenen italienischen Polizei- und Heereseinheiten in Südtirol stationiert, dreimal mehr als der gesamtstaatliche Durchschnitt. Der direkte und indirekte Wähleranteil dieser Polizei- und Heeresangehörigen beträgt rund 20.000 Stimmen. Zählt man die ehemaligen Staatsschützer "außer Dienst" oder "in Ruhe" hinzu, muß ein noch höherer Anteil angenommen werden.

Die italienische Sprachgruppe zählt insgesamt etwa 90.000 Wählerstimmen. Sie entscheidet damit statistisch über drei der zehn italienischen Landtagsmandate. Der Vorsitzende des "Provinzverbandes der ehemaligen Männer in Uniform", der selbst im Rahmen des italienischen Mitte-Rechts-Bündnisses bei den Landtagswahlen für die rechtsliberale Forza Italia Berlusconis kandidieren wird, spricht sogar von vier Landtagsmandaten, die von aktiven und ehemaligen uniformierten Staatsschützern bestimmt werden könnten. Dieser Bevölkerungsgruppe kommt damit innerhalb der italienischen Sprachgruppe Südtirols ein überdurchschnittliches Gewicht zu, das sie sonst in keinem anderen Teil Italiens besitzt. Diese bisher kaum beachtete Stärke verleiht dieser zudem durch Eid besonders eng dem italienischen Staat verpflichteten Gruppe nachdrücklichen Einfluß auf die Meinungsbildung innerhalb der italienischen Sprachgruppe in Südtirol.

Seit den Gemeinderatswahlen von 1985 bildet der einstige neofaschistische MSI bzw. seine postfaschistische Nachfolgerin Alleanza Nazionale die stärkste italienische Partei in Südtirol. Sie vertritt seit den letzten Landtagswahlen allein 35 Prozent der italienischen Wählerschaft. Diese überdurchschnittliche Präsenz, ihr Einfluß durch ihre zahlenmäßige Stärke mit allen daraus erwachsenden Konsequenzen gilt es von Südtiroler wie österreichischer Seite künftig bei der Beurteilung der Südtirolpolitik stärkere Beachtung zu schenken.

In der FF 14/98 machte Dello Sbarba dann auf eine italienische Einwanderungsbewegung aufmerksam, die bisher von Südtiroler Seite gar nicht wahrgenommen wurde, da in absoluten Zahlen jährlich eine stärkere italienische Abwanderung festgestellt wurde und man damit keinen Grund zur weiteren Vertiefung dieser Migrationsbewegungen sah. Bisher beschäftigte sich die Zeitgeschichtsforschung und Politik mit den beiden bekannten italienischen Einwanderungswellen nach Südtirol. Die erste erfolgte während der faschistischen Herrschaft, die zweite unmittelbar nach Kriegsende bis in die frühen 60er Jahre.

Was hat es nun aber mit dieser bisher unbeachtet gebliebenen dritten Einwanderungswelle auf sich? Wie bereits erwähnt, sind seit 1972, seit dem Inkrafttreten des Autonomiestatuts, jedes Jahr mehr Italiener aus Südtirol ab- als zugewandert. Insofern hat die italienische Sprachgruppe abgenommen: Ihr Anteil schrumpfte von 33,3 Prozent bei der Volkszählung von 1971 auf 27,6 Prozent bei der letzten Volkszählung von 1991. Dies entspricht einem Rückgang von 17 Prozent.

Was aber bisher übersehen wurde, ist das Ausmaß der Ab- und Zuwanderung. Zur Orientierung sei vorausgeschickt, daß bei der Volkszählung 1991 116.914 Einwohner Südtirols ihre Zugehörigkeit zur italienischen Sprachgruppe erklärten (305.937 hingegen ihre Zugehörigkeit zur deutschen und ladinischen Volksgruppe). Von 1972 bis einschließlich 1997 sind 54.600 Italiener aus Südtirol abgewandert und im selben Zeitraum 45.800 zugewandert. Diese Zahlen legen die geradezu beeindruckende Größenordnung dieser Migrationsbewegungen offen. Berücksichtigt man nur den Zeitraum von der Volkszählung 1971 bis zu jener von 1991 und nur die Abwanderung, dann ist der bereits 1971 in Südtirol lebende italienische Bevölkerungsanteil an der Gesamtbevölkerung von 33,3 Prozent auf 19 Prozent zurückgegangen oder nur auf die Italiener bezogen um ganze 43 Prozent geschrumpft.

Wenn der italienische Bevölkerungsanteil bei der Volkszählung 1991 trotzdem bei 27,6 Prozent lag, wird deutlich, daß innerhalb von 20 Jahren ein Drittel der Italiener ausgetauscht wurde und daß die Südtiroler daher ständig mit neuen italienischen Zuwanderern ohne Kenntnisse der lokalen Verhältnisse und mit der gewohnten instinktiven "Siamo-in-Italia"-Mentalität konfrontiert werden. Bisher wurde von Südtiroler Seite die Politik so gestaltet, als würde man sich immer an denselben italienischen Adressaten wenden. In Wirklichkeit ist dem aber nicht so. Darin mag auch ein wesentlicher Grund für das Scheitern einer schnelleren Integration und die stets sich erneuernde Aversion auf italienischer Seite gegen die Südtiroler Anliegen zu finden sein.

Diese blanken Zahlen bringen zum Ausdruck, daß selbst nach 80 Jahren der italienischen Herrschaft in Südtirol nur unter starken Einschränkungen von einer Verwurzelung der italienischen Sprachgruppe ausgegangen werden kann. Die Neuzuwanderer verfügen größtenteils über keinerlei Kenntnissse der Landesgeschichte, der Tradition und Kultur Südtirols, geschweige denn Gesamttirols. Ihnen fehlt daher auch jeder Zugang zur Südtirolfrage und damit jedes Verständnis für die aktuelle Diskussion zur Schaffung einer Europaregion Tirol bis hin zur politischen Landeseinheit, wie sie von volkstumspolitischen Kreisen angestrebt wird. Auch allen aktuellen ethnischen Fragen stehen sie meist ablehnend gegenüber. Nach Südtirol führt sie meist die Nullarbeitslosigkeit, die starke Nachfrage nach Arbeitskräften und der hohe Lebensstandard. Gleichzeitig sind sie aber – sobald in Südtirol angekommen – auch Wähler und an der Meinungsbildung beteiligt und beeinflussen damit aktiv die Landespolitik und die Südtirolpolitik des italienischen Staates.

Für Südtirol und Österreich stellt sich aber die Frage, wie man mit diesen Bevölkerungsverschiebungen umgehen, wie man darauf reagieren soll. Bisher ging man davon aus, daß ein Verwurzelungsprozeß im Gange sei, da die jüngeren Jahrgänge bereits zum größten Teil in Südtirol geboren seien. Das gilt aber nur für einen Teil der italienischen Sprachgruppe. Ein Drittel der heute in Südtirol lebenden Italiener kam erst durch diese dritte Einwanderungswelle ins Land.

Wie kann also mit der italienischen Sprachgruppe, die einer starken Fluktuation ausgesetzt ist, ein Dialog gesucht werden und wie soll dieser geführt werden? Wir haben Italiener, die bereits in der dritten Generation im Land leben, andere in der zweiten und ein gutes Drittel in der ersten Generation.

Hinzu kommt noch ein Detail von besonderer Tragweite: Südtirolerseits möchte man sich der Hoffnung hingeben, daß zumindest den in Südtirol geborenen und aufwachsenden italienischen Kindern das nötige Verständnis für die Landesgeschichte und auch die nötige Toleranz gegenüber der deutschen Volksgruppe vermittelt werden kann. Dabei würde der Schule eine Hauptaufgabe zufallen. Durch die jüngst erfolgte Übertragung von Zuständigkeiten im Schulbereich vom Zentralstaat auf das Land könnte die Vermittlung der Tiroler Landesgeschichte auch an italienischen Schulen zumindest verstärkt versucht werden. Nun stellt sich aber heraus, daß rund zwei Drittel der italienischen Lehrerschaft an den italienischen Schulen in Südtirol aus Italien stammt und dieser dritten Einwanderungswelle angehört. Diese Lehrer werden sich in der Praxis auf den Hinweis beschränken, daß Südtirol im Zuge eines "siegreichen" Weltkrieges Italien "angeschlossen" wurde. Konkret bedeutet das aber, daß auch die in Südtirol geborenen und aufgewachsenen italienischen Schulkinder mehrheitlich von Lehrern unterrichtet werden, die erst seit wenigen Jahren in Südtirol Wohnsitz bezogen haben und damit den wichtigen Vermittlungsauftrag der Schule aus Mangel an Kenntnis nicht erfüllen können oder aus Mangel an Verständnis nicht erfüllen wollen.

Damit werden auch die in Südtirol geborenen italienischen Kinder im italienischnationalen Sinn erzogen und damit verzogen, wie auch die jüngsten Proteste der italienischen Schüler gegen die Einführung von Deutsch als verpflichtendem Abiturfach zeigten.


 
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