© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Rußlanddeutsche: Vor dem Bundestreffen der Landsmannschaft in Stuttgart
Zwist unter Neubürgern
von Martin Schmidt

Die Mitte 1997 unter den aktiven Kreisen der ausgesiedelten Rußlanddeutschen ausgebrochene Strategie-Kontroverse hat zuletzt an Heftigkeit zugenommen. Die Führungsriege der Landsmannschaft und die Schriftleitung ihres Organs Volk auf dem Wegreagiert auf neu entstandene Organisationen und Publikationen wie ein Platzhirsch, der in seinem Revier keine Eindringlinge duldet. Besonders die am 29. November vergangenen Jahres gegründete "Bundesvereinigung Heimat" läßt in der Stuttgarter Zentrale die Wogen der Erregung hochgehen. Die "Heimat" sei ein bloßes "Wirtschaftsunternehmen", das aufgrund dubioser Rußland-Kontakte ihrer machthungrigen Führungsleute den Aussiedlern hier Wunderdinge verspreche. Die "Heimat" wolle die Landsmannschaft spalten, schade mit ihrer Kritik und ihren überzogenen politischen Forderungen den Interessen der Rußlanddeutschen.

Auf beiden Seiten kam es vor diesem Hintergrund zu Polemiken, die eindeutig über das Ziel hinausschossen. Doch davon abgesehen handelt es sich um eine überfällige Auseinandersetzung, die von einer so weitreichenden Bedeutung für die Zukunft der Volksgruppe in Deutschland ist, daß sie selbstverständlich mit Engagement geführt wird. Was zählt, ist, daß im Zuge der Diskussion die Unterschiede zwischen den Vorstellungen der Landsmannschaft und denen der alternativen Gründungen für jeden interessierten Rußlanddeutschen und alle mit der Thematik vertrauten alteingesessenen Deutschen deutlich sichtbar werden.

Die Union will Aussiedler bei der Stange halten

Theodor Schulz, der Chefredakteur des vor drei Jahren aus der Taufe gehobenen Ost-West-Dialogs, hat sich in der April- bzw. Mai-Ausgabe der bis dato der Landsmannschaft positiv gegenüberstehenden Zeitschrift mit einem teils polemischen Leitartikel hinter die Kritiker der Landsmannschaft gestellt: "Die Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, in erster Linie ihr Bundesvorstand, versteht sich, konnte eine Reihe von Veränderungen der Gesetze über die Aussiedler in den Jahren von 1990 bis 1997 nicht verhindern oder auf Entscheidungen auch nur etwas Einfluß nehmen. Als Ergebnis haben wir das, was wir haben: eine Verringerung der Renten für unsere ältere Generation, eine Verkürzung der Dauer des Sprachkurses, die Einführung von Sprachtests, eine Reihe von Beschränkungen für nichtdeutsche Ehegatten, die Einführung von Zwangsansiedlungsorten und Verlängerung des Wohnortzuweisungsgesetzes bis zum Jahre 2000 und Entzug anderer Vergünstigungen, die für die erste Zeit der Eingliederung in die neue Gesellschaft so notwendig sind." Und über die Nähe der Landsmannschaft zur Bundesregierung fügte Schulz hinzu: "Soll man solidarisch sein mit einer Regierung, die die Integrationspolitik zum Scheitern gebracht hat, indem sie die Gesetze bezüglich der Aussiedler verschärft hat?"

Führt man sich die Verlautbarungen der Landsmannschaft aus den letzten Monaten vor Augen, so spricht in der Tat wenig dafür, daß das 26. Bundestreffen am 6. Juni in Stuttgart einen anderen Charakter gewinnt als den altbekannten: Erneut wird es wohl in erster Linie darum gehen, die Aussiedler bei der politischen Stange zu halten. Daß diesmal sogar Bundeskanzler Kohl in der baden-württembergischen Landeshaupstadt sprechen wird, zeigt, daß so viele Wählerstimmen wie möglich der unzufriedenen Rußlanddeutschen für die CDU/CSU zu retten. Es drohe erneut, so Theodor Schulz, "eine regelrechte Farce, die die allgemeine Solidarität auf Bestellung demonstriert". Der Landsmannschaftsvorsitzende Alois Reiss erklärte dagegen auf einer Klausurtagung Anfang April in Kassel, man dürfe keine "Plattform für parteipolitische Agitationen" bilden, unterschlugdabei aber die oftmals bewiesene Funktion der christliche geprägten Landsmannschaft als Wahlwerbeverein für die Unionsparteien.

Zumindest die Führungsspitze der Landsmannschaft hat sich offenbar weitgehend mit ihrer über lange Jahre geübten Rolle als "vom Innenministerium ferngesteuertes Disziplinierungsinstrument" der Rußlanddeutschen (so Der Spiegel 8/98, S. 66) identifiziert. Dabei würde die mit dem Wahlergebnis der CDU in Sachsen-Anhalt überdeutlich gewordene aktuelle Misere der Union hervorragende Möglichkeiten eröffnen, im Hinblick auf die Bundestagswahlen handfeste Verbesserungen für die Aussiedler herauszuschlagen. Deutliche Worte, wie sie von Jakob Fischer, dem Referenten für Öffentlichkeitsarbeit, nach der letzten Klausurtagung der CSU in Wildbad Kreuth fielen, sind jedoch noch immer Mangelware. Fischer hatte nach den Beschlüssen über eine drastische Verschärfung der Aufnahmebestimmungen für Rußlanddeutsche gewarnt: "Wo bleibt die vielgelobte Solidarität der CSU mit den Rußlanddeutschen in der GUS? Ausgerechnet die CSU verwechselt (…) die nach Art. 116 GG anerkannten deutschen Aussiedler mit Ausländern. Aussiedler haben außerdem das Wahlrecht und werden davon am 27.09.98 Gebrauch machen."

Überall wird in Zeiten knapper Kassen von den verschiedensten politischen Lobbies verbissen um die Wahrung der eigenen Interessen gerungen. Wenn die Landsmannschaft nun meint, sie könne eine wirkungsvolle Interessenvertretung auch betreiben als letztlich der Regierung stets loyal gegenüberstehende Kulturvereinigung, die finanziell weitgehend von den Zuwendungen aus dem Steuersäckel abhängig ist und personell den Zwängen der parteipolitisch fest eingebundenen Funktionäre gehorchen muß, so darf sie sich nicht wundern, daß gerade junge Rußlanddeutsche zu anderen Organisationen überlaufen. Wenn man sich zudem immer wieder auf den Status als eingetragener Verein beruft, der nun einmal keine "wirtschaftlichen Aktivitäten" dulde – sprich: eigene Finanzierungsanstrengungen jenseits der Erhebung von Mitgliedsbeiträgen und der Sammlung von Spenden – so wird man sich den Vorwurf gefallenlassen müssen, daß der "e. V." doch kein Selbstzweck sein könne. In jedem Fall läuft die Landsmannschaft Gefahr, all jene zu verlieren, die erkennen, daß substantielle Veränderungen zugunsten der Rußlanddeutschen im Sinne einer deutlich verbesserten Akzeptanz durch die einheimische Bevölkerung ganz wesentlich von der eigenen aktiven Einschaltung in die Prozesse der Meinungsbildung abhängen.

Allerdings hat die inzwischen über deutschlandweite Strukturen verfügende "Bundesvereinigung Heimat" viele Vorschußlorbeeren schon wieder eingebüßt und wird von internen Querelen erschüttert. Mitte Mai haben gleich eine ganze Reihe wichtiger Führungspersonen die neue Interessenvertretung unter Protest verlassen: der bisherige Herausgeber des Vereinsorgans Welt der Heimat, der rußlanddeutsche Unternehmer Viktor Trenkenschuh, ferner Viktor Horn als Chefredakteur der Zeitung, dessen Stellvertreter Alexander Prieb sowie Andreas Maurer. Sie hatten sich gegen die enge parteipolitische Anbindung der Vereinigung an den Bund Freier Bürger (BFB) ausgesprochen, weniger deshalb, weil sie dieser Partei negativ gegenüberständen, sondern weil es ja gerade die Fixierung auf bestimmte Parteiinteressen bedeute, die man der Landsmannschaft vorwirft. Unabhängig sollen ihrer Meinung nach die Repräsentanten der Rußlanddeutschen agieren können und allenfalls für jeweils eine bestimmte Wahl Empfehlungen aussprechen, aber sich keinesfalls parteipolitisch festlegen.

Wirtschaftliche Bindungen nach Rußland sollen helfen

Doch "Heimat"-Chef Viktor Bossert, seines Zeichens der erste noch zu Sowjetzeiten freigewählte Generaldirektor des Rigaer Automobilwerkes (RAF), will offenbar unbedingt in den Deutschen Bundestag einziehen; und nachdem er von verschiedenen Vertretern der etablierten Parteien in den vergangenen Monaten im persönlichen Gespräch keinerlei konkrete Zusagen erhalten konnte, ließ er sich nun für seine Organisation im Falle der Überwindung der Fünf-Prozent-Hürde vom BFB drei Mandate zusichern. Auch stören sich die aus der "Heimat" ausgetretenen Personen an dem autoritären Führungsstil des im August 1996 nach Deutschland ausgesiedelten Bossert, dem sie einen Befehlston nach Art eines "sowjetischen Direktors" vorwerfen.

Diese Entwicklung ist im Interesse der Rußlanddeutschen um so bedauerlicher, da das Programm der "Heimat" durchaus zukunftsweisende Alternativen zur Landsmannschaft aufweist. In einer Grundsatzerklärung des Vorstandes aus der Gründungsphase wurde beispielsweise die Notwendigkeit dargelegt, selbst etwas dazu beizutragen, das wirtschaftlich-soziale Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen, und zwar durch die "Erschließung von Marktlücken in Rußland und anderen GUS-Staaten, wo zu unsere Kontakte (…) von Nutzen sein könnten". Damit würden nicht zuletzt Sympathien unter den alteingesessenen Deutschen gewonnen, und, so ist hinzuzufügen, auf diesem Wege ließen sich auch die Bindungen zwischen den ausgesiedelten Rußlanddeutschen und der Bundesrepublik Deutschland einerseits sowie den (noch) in der GUS verbliebenen Rußlanddeutschen ausbauen.

Die "Heimat" fordert die Rußlanddeutschen bewußt zu einer "breitangelegten gesellschaftlichen Arbeit" auf und dazu, sich aktiv in die Meinungsbildung durch die hiesigen Medien einzuschalten, um "beitragen zu können, daß der Zustand der Verfremdung zwischen Spätaussiedlern und einheimischer Bevölkerung aufgehoben wird sowie über die Geschichte und das tragische Schicksal eines Teils des deutschen Volkes, der Rußlanddeutschen, informiert und aufgeklärt werden kann". Im Bewußtsein der eigenen großen Zahl und des zumindest theoretisch beträchtlichen Einflusses bei Wahlen (Bossert sprach von 1,5 Millionen Stimmen, was für den Fall ihrer Bündelung 2,5 Prozent und einen Anteil von 15 bis 17 Sitzen im Bundestag bedeuten würde) will man die eigenen Forderungen offensiv an die Öffentlichkeit tragen.

Tatsächlich hängt das Gelingen der Integration der Rußlanddeutschen in Deutschland nicht zuletzt davon ab, ob sich immer mehr Aussiedler für die eigenen Gruppeninteressen mobilisieren lassen und möglichst viele Parteien so für die Probleme der Aussiedler sensibilisiert werden. Es ist schließlich bezeichnend, daß im jetzigen Bundestag nicht ein einziger Rußlanddeutscher zu finden ist. Die Landsmannschaft muß wohl das anstehende Bundestreffen in Stuttgart dazu nutzen, zu zeigen, daß sie selbst zu einer derartigen Interessenpolitik willens und in der Lage ist. Wenigstens müssen sich ihre Entscheidungsträger darauf verständigen, eine entsprechende Arbeitsteilung mit anderen Organisationen zu akzeptieren, um sich noch stärker auf die unbestritten ebenfalls wichtigen sozialen, kulturpflegerischen und geselligen Inhalte der Verbandsarbeit zu konzentrieren.

Der landsmannschaftliche Alleinvertretungsanspruch, wie er vom Vorsitzenden Alois Reiss und einigen anderen Funktionären immer wieder reklamiert wird, ist jedenfalls mit der realen Stimmung in der Volksgruppe kaum noch in Deckung zu bringen. Das mögliche Scheitern der "Bundesvereinigung Heimat" würde daran grundsätzlich nichts ändern.


 
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