© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Politiker im WM-Fieber: In Frankreich werden auch Präsidentschaftswahlen entschieden
König Fußball regiert die Welt
von Richard Hausner

Am Mittwoch, dem 10. Juni, 17.30 Uhr ist es soweit: Mit dem Anpfiff des Eröffnungsspiels Brasilien gegen Schottland beginnt die Fußball-Weltmeisterschaft 1998. Die WM in Frankreich ist ein gigantisches Sport- und Medienspektakel – und noch viel mehr: Sie ist ein kaum zu unterschätzendes Politikum.

Zahlreiche politische Gruppierungen und Träger staatlicher Macht versuchen von der über einen Monat dauernden Veranstaltung zu profitieren. So wurde bereits im März gemeldet, daß islamische Extremisten Bombenanschläge planen würden. In Brüssel wurden damals großen Mengen an Sprengstoff beschlagnahmt. Dem ging ein Feuergefecht der Polizei mit Angehörigen einer Splitterorganisation der algerischen Terrorgruppe GIA (Groupes Islamiques Armés) und deren Verhaftung voraus. Aber auch die Teilnahme Nigerias sorgt für Aufregung. Schließlich hat die EU einen Boykott gegen das vom Militärdiktator Abacha auf skandalöse Weise regierte Land verhängt, der nun – so fürchten manche – durch ein ordentliches Abschneiden des Olympiasiegers von 1996 und den daraus resultierenden Prestigegewinn ad absurdum geführt werden könnte.

Angesichts des Massenphänomens, als das der Fußball zweifellos anzusehen ist, können die emsigen Bemühungen, hier nicht nur in sportlicher Hinsicht Aufmerksamkeit zu erhaschen bzw. Pluspunkte zu sammeln, niemanden verwundern. Schon in entscheidenden Bundesliga-Begegnungen gilt es ja als chic, als Politiker Sympathien für einen Verein zu haben und dies öffentlich zu demonstrieren. Waigel zeigt sich mit dem Schal des TSV 1860 München, Stoiber ist Mitglied im Verwaltungsbeirat des FC Bayern, Kinkel (KSC-Mitglied) besuchte sogar das wichtige Auswärtsspiel des Karlsruher SC beim VfL Bochum. Doch auch die Anwesenheit des Außenministers konnte den Abstieg des KSC nicht verhindern.

Aller Präsenz, Sympathien und Nebenposten zum Trotz: Die Einflußnahme der bundesdeutschen Politiker auf den Fußballsport ist im Vergleich zu anderen Ländern sicherlich gering. Die Mehrfachfunktionen des Italieners Silvio Berlusconi, der einst als Inhaber eines Fernsehsenders Präsident des AC Mailand und rechter Regierungschef zugleich war, oder des Franzosen Bernard Tapie, der als sozialistischer Minister und Präsident von Olympique Marseille nach Korruption und Bestechung im Gefängnis landete, sind da schon von einem anderen Kaliber.

Paraguays Torwart will Staatsoberhaupt werden

Die WM-Euphorie schlägt nicht nur in Spanien hohe Wellen, wo die staatlichen Fernsehgesellschaften bei Spielen mit spanischer Beteiligung Einschaltquoten von 85 bis 90 Prozent voraussagen. Allerdings ist die Vorfreude auf der Iberischen Halbinsel nicht ungetrübt. Viele Spanier werfen dem baskischen Trainer Javier Clemente vor, er würde Spieler aus dem Baskenland offensichtlich bevorzugen. Festgemacht wird diese Kritik häufig an der Besetzung des Torhüterpostens mit dem 36jährigen Andoni Zubizarreta. Von seinen baskischen Landsleuten wird Clemente demgegenüber hochgeehrt.

Für Aufsehen sorgt auch José Luis Felix Chilavert, der Torhüter Paraguays. Der 32jährige ist ein regelrechter Volksheld und liegt bei allen Umfragen zum derzeitigen Präsidentschaftswahlkampf an erster Stelle. Chilavert hat den Ruf des torgefährlichsten Keepers der Welt. "In Frankreich will ich versuchen, als erster Torhüter der Geschichte bei der WM einen Treffer zu erzielen. Ob Freistoß oder Elfmeter, das ist mir völlig gleich", erklärte der Kapitän im Vorfeld des Turniers der Turniere. Coach Carpegiani attestiert dem Leistungsträger Verantwortungsbewußtsein und Charakterstärke. Spielt Paraguay eine gute WM, versteht es sich von selbst, daß Chilaverts Aussichten auf das höchste politische Amt in dem südamerikanischen Land mit seinen gut fünf Millionen Einwohnern beträchtlich steigen.

Ein weiteres krasses Beispiel für die Verflechtung von Politik und Sport ist Saudi-Arabien. So ist Prinz Sultan zugleich Vizepräsident des Fußballverbandes. Die saudischen Ölprinzen scheuen in keinster Weise finanzielle Aufwendungen, wenn es darum geht, ihren Vorlieben zu frönen. Während der Titelkämpfe will man für zwei Stunden die Champs-Elysées mieten, um im Zentrum von Paris eine Kamelparade zu veranstalten. Die Kosten von vier Millionen Francs schrecken da nicht ab. Wenn es um eine erfolgreiche Fußball-WM geht, dann werden im sonst streng moslemischen Land sogar Gesetz und Religion vernachlässigt. Khames Al-Owairan, spätestens nach seinem Traumtor zum 1:0 über Belgien bei der WM 1994 in den Vereinigten Staaten zum Idol aufgestiegen, war zwischenzeitlich wegen Alkoholgenusses im Fastenmonat Ramadan ins Gefängnis geworfen worden. Nun wurde er eigens begnadigt, damit er die gegnerischen Abwehrspieler das Fürchten lehrt.

Erstaunliches ist aus Mexiko zu vernehmen. Da richtete das Innenministerium eine Bitte an das Parlamentspräsidium, die Abgeordneten mögen wegen der Weltmeisterschaft doch ihre laufenden Sitzungsferien bis zum Ende des Turniers verlängern. Begründung: Die Mexikaner dürften nicht durch die TV-Übertragungen aus Frankreich von wichtigen politischen Enscheidungen abgehalten werden.

In Südafrika sucht Staatspräsident Nelson Mandela schon seit längerem die Nähe zur Nationalmannschaft. Bereits 1996, als Südafrika Gastgeber der Kontinentalmeisterschaft war, verfolgte er das Eröffnungsspiel im Nationaltrikot mit der Rückennummer des Kapitäns. Nach dem gewonnenen Finale überreichte Mandela – erneut im südafrikanischen Dress – die Trophäe an "seine" Mannschaft. Dabei vergaß er auch nicht, auf die identitätsstiftende Komponente des Fußballs hinzuweisen, und bezeichnete den Gewinn des Afrika-Cups als "ein verspätetes Neujahrs-Geschenk für die Nation". Als nun im März Philippe Troussier neuer Cheftrainer wurde, beeilte sich Mandelas Ex-Frau Winnie, ihn zu einem Empfang in ihrem Garten einzuladen. Dabei schlachtete die unter Mordverdacht stehende Idolfigur der radikalen ANC-Kräfte ein Lamm und übergab dem Franzosen ein Armband als Glücksbringer für die anstehende WM.

Besonders Bemerkenswertes gibt es aus der Bundesrepublik Jugoslawien zu berichten, jedoch weniger im Hinblick auf das bevorstehende Weltturnier. Zum erstenmal in seiner Vereinsgeschichte wurde dort Obilic Belgrad jugoslawischer Meister. Vorsitzender und Eigentümer des Vereins ist Zeljko Raznatovic, in ganz Jugoslawien und auch darüber hinaus bekannt unter seinem Spitznamen "Arkan", eben jener serbische Freischärlerführer also, dessen Aktionen in Kroatien und Bosnien berüchtigt waren und dessen Kämpfer sich heute angeblich im Kosovo aufhalten. Raznatovic muß sich seit Ende Mai wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Gleich nach dem Titelgewinn war der knapp 50jährige als Präsident von Obilic Belgrad zurückgetreten. Die Nachfolge ging an seine Frau Svetlana über, die vom Alter her seine Tochter sein könnte und die zu den bekanntesten serbischen Sängerinnen gehört.

"Arkan", der bis zum Ausbruch des Krieges in Jugoslawien in Frankreich gelebt hatte, erlangte seine Berühmtheit und auch seinen Reichtum infolge seiner bis heute höchst mysteriösen Rolle bei den mit aller Brutalität geführten Kämpfen zwischen Serben, Kroaten und moslemischen Bosniaken. Merkwürdiges wird auch über seine fußballerischen Aktivitäten gemunkelt: Gerüchte besagen, daß gegnerische Mannschaften bestochen worden seien, wenn Obilic vor einer Niederlage stand.

Faszinierend ist die Erfolgsserie des Außenseiters allemal: In den 33 Punktspielen hatten die Belgrader 27mal die Nase vorn, fünfmal trennte man sich unentschieden, und nur einmal zog die Raznatovic-Truppe den kürzeren. Dennoch lag Roter Stern Belgrad am Ende nur zwei Zähler hinter dem Meister, der mit Stürmer Zoran Rankovic allerdings nur einen Spieler ins WM-Aufgebot Jugoslawiens entsendet.

In der Ukraine ist der berühmte Fußballverein Dynamo Kiew Hauptwerbeträger für die Vereinigte Sozialdemokratische Partei, die im März bei den Parlamentswahlen landesweit rund vier Prozent erzielte und damit achtstärkste Partei wurde. Da die zweitstärkste Formation auf Grund der starken Zersplitterung des Parteiengefüges in der Ukraine nur gut neun Prozent erhielt, ist das Resultat nicht so schlecht, wie es auf den ersten Blick erscheint. Immerhin sind die Sozialdemokraten mit 19 Sitzen im Parlament vertreten. Auf ihrer Liste kandidierten mit Valerij Lobanowski und Grigorij Surkis der Cheftrainer sowie der Präsident von Dynamo Kiew. Des weiteren hatte sich der legendäre Oleg Blochin aufstellen lassen; Blochin hatte als 23jähriger im Jahre 1975 mit Dynamo Kiew den Europapokal der Pokalsieger gewonnen und wurde im selben Jahr zum "Fußballer Europas" gewählt. Der flinke Stürmer ist in der Ukraine bis heute ein Idol. Hinter dem Fußballverein sowie hinter der Partei werden im übrigen Gelder des früheren KGB und jetzigen ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU vermutet.

Angolas UNITA-Rebellen betrieben eigene Fußballiga

Einen außerordentlich hohen Stellenwert besitzt der Fußball nicht zuletzt in Angola. Signifikant ist eine Meldung, die vor zwei Jahren bis in die europäische Presse durchsickerte, nämlich, daß nach 20 Jahren Bürgerkrieg sowohl die UNITA-Rebellen als auch die Regierung ihre eigene Fußballiga betrieben.

Von der letzten Fußball-Europameisterschaft 1996 haben sich ganz besonders die Bilder der schottischen Fans eingeprägt, die ihren Gesichtern vor dem Spiel gegen England eben jene Kriegsbemalung gegeben hatten, mit der William Wallace alias Mel Gibson und seine Hochlandmannen in dem Film "Brave-heart" in die Schlacht gegen die verhaßten englischen Besatzer zogen. Und der schottische Trainer ließ seinen Spielern vor dem Anpfiff dieses monumentale Leinwandepos über den Freiheitskampf der Schotten im 13. und 14. Jahrhundert eigens in voller Länge vorführen, als zusätzliche Motivation gewissermaßen. Der Erfolg blieb jedoch aus: Das Spiel endete 2:0 für England. Doch das aktuelle Streben der Schotten nach mehr Unabhängigkeit wurde gut ein Jahr später mit dem Referendum für ein eigenes Parlament belohnt. Man darf gespannt sein, welche politischen Signale von der Weltmeisterschaft in Frankreich ausgehen werden. Eines jedoch dürfte feststehen: Zwischen dem 10. Juni und 12. Juli regiert "König Fußball" die Welt.


 
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