© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Gesellschaft: Liebe und Sexualität in den Zeiten der späten Kohl-Ära
Die Impotenz des Westens
von Oliver Geldszus

Am 4. Juni jährte sich der 200. Todestag Giacomo Girolamo Casanovas, der in die Geschichte als größter Frauenliebhaber aller Zeiten einging. Doch Casanova war mehr als nur ein Wüstling im Reich der Spitzenwäsche: er war Freigeist, Diplomat, Naturwissenschaftler, Okkultist. 1757 gelang ihm die nahezu unmögliche Flucht aus den venezianischen Bleikammern, die ihn in ganz Europa berühmt machte. Der Berliner Soziologe Nicolaus Sombart kennzeichnete Casanova einmal als einen "souverän-anarchistischen" Abenteuertypus. Ein Glücksritter jenseits bürgerlicher Moralvorstellungen, der unbeirrt seinen Weg diesseits des Lustprinzips ging und sich mit seinem individuellen Freiheitsbegriff unnachahmlich vom gegenwärtigen Bild des dressierten Mannes abhebt, der sich eingebunden sieht in Arbeitsalltag und Familienroutine.

Gegen den festgefügten bürgerlichen Moralbegriff hatten nicht zuletzt die Protagonisten von 1968 mit ihrem Schlagwort der Sexuellen Befreiung opponiert: wild und ohne Beschränkung sollte der nunmehr befreite Mensch seine Aggressionen verlieren und die liebevolle Blumenkinderrevolte gestalten. Die Institution jedoch, die diese wirren Zeiten als Siegerin überstand, war keine andere als die Ehe selbst; sie überlebte das Kommunenwesen. Trotz vieler außerehelicher monogamer Verbindungen hat sich die Zahl der Eheschließungen seit 1970 nur unerheblich verringert und erlebte 1990 einen neuen Boom.

Das Lebensgefühl der achtziger Jahre war nach all den Eskapaden eher kühl und rational: es fanden sich schöne Menschen in schönen Wohnungen zu einer Zweckgemeinschaft zusammen. Alternative Modelle fanden nur noch im studentischen Abseits statt. Gegen diesen frigiden Lebenskult setzten die gefühlvollen Neunziger die Renaissance der Romantik: Treue, Liebe, Virginität erhielten wieder einen längst verloren geglaubten Wert. Kinoschlager wie "Pretty Woman", in dem eine Prostituierte das Herz eines Millionärs erobert oder vor allem natürlich der Welterfolg "Titanic" waren die passende cineastische Kulisse dieser Ära.

Doch diese "Entdeckung des Herzens" wurde in den letzten Wochen aus den USA in Form der Potenzpille Viagra gründlich konterkariert. Denn das blaue Wunder, das die katholische Kirche als "Kunstdünger für die männlichen Lenden" ironisch begrüßte, torpediert nachhaltig die neue Romantik und reduziert den Mann zum phallusdominierten Samenspender, als wollte die Pharmaindustrie im nachhinein Freuds Lehre überprüfen. Doch die Venuspille hat wie alles ihre Tücken: Nicht nur, daß sie neben den Genitalien auch ins Geld geht; mittlerweile sind weltweit auch bereits die ersten Todesopfer des Aphrodisiakums gemeldet worden; es kam vor, daß der Herzschlag aussetzte. Die von der Pille bewirkte pure Lust statt reiner Leidenschaft ist zugleich eine treffende Zustandsillustration des sinnentleerten Zeitgeists kurz vor der Jahrtausendwende. Das haben in dieser Form wohl selbst die 68er nicht gewollt. Der Mann gerät dabei zur Kunstfigur: chemisch präpariert und artifiziell aufgepumpt vollzieht er im Schlafzimmer seinen Dienst.

Die schleichende Impotenz der westlichen Industriegesellschaften, deren Indiz Viagra ist, ist des weiteren ein bedenkliches Signal der Dekadenz. Die mangelnde Natürlichkeit, die sich im abendlichen Griff nach dem Mittel ausdrückt, erscheint als Ausdruck des Niedergangs, dessen Tendenz von der sinkenden Geburtenrate zusätzlich unterstützt wird. Dagegen steigen die Bevölkerungszahlen in den armen Regionen Asiens und Afrikas mit atemberaubender Geschwindigkeit. Hier kündigt sich der Kampf der Kulturen als natürliche Revolte an. Die Impotenz der westlichen Welt ist zunächst eine Folge von Streß, zu geringer Erholung und falscher Ernährung, zum anderen aber auch Ergebnis einer überalterten Kultur. Dem begegnet das rationale Abendland wie gewohnt mit wissenschaftlichen Methoden. Trotz der Überschwemmung der Medienlandschaft mit Erotik bis hin zur Pornographie ist in vielerlei Hinsicht die Zeit für Lust und Leidenschaft in der Hektik der Gegenwart abhanden gekommen. Die zum Teil aufdringliche Präsenz der Sexualität ist oft nur bunter Schein, der der Wirklichkeit nicht standhält. Casanova ist ein Prototyp einer vergangenen Zeit, dessen Lebenswandel den Verlust anzeigt, den die Moderne bedingt.


 
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