© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/98 29. Mai 1998

 
 
Vertriebene: Der Sprecher der Landsmannschaft Ostpreußen zur Zukunft des Bundesverbandes
"Wir haben eine hörbare Stimme"
Interview mit Wilhelm von Gottberg

 

Herr von Gottberg, was bedeutet Heimat für Sie?

Gottberg: Heimat gehört für mich zu den elementaren Grundlagen des menschlichen Lebens. Heimat ist ein Raum, der Geborgenheit und Vertrautheit bietet. Dazu gehören Verwandte, Nachbarn, Freunde, die Gräber der Vorfahren, vertraute Gebäude, Wege und Straßen und auch die emotionale Bindung an die heimatliche Mundart und das Brauchtum der angestammten Region. Heimat ist der Ort, für den ich Heimweh empfinde.

Haben die Vertriebenenverbände noch Zukunft?

Gottberg: Die Erlebnisgeneration geht aus der Welt. Die Nachgeborenen der Heimatvertriebenen sind nach meinem Eindruck nur zu einem kleinen Teil bereit, als Bekenntnisgeneration in die Fußstapfen ihrer Vorfahren bezüglich des Einsatzes für Ostdeutschland und die in der Heimat verbliebenen Landsleute einzutreten. Es gibt aber Bürger, die uns zur Seite stehen, obwohl sie kein Vertreibungsschicksal zu erleiden hatten. Da die Erlebnisgeneration in den nächsten acht bis zehn Jahren nicht völlig abgetreten sein wird, kann man vorhersagen, daß die Vertriebenenverbände vorläufig noch eine hörbare Stimme in unserer Gesellschaft haben werden.

Wird die Perspektive des Bundes der Vertriebenen, des BdV, in den eigenen Reihen diskutiert?

Gottberg: Persönlich bin ich der Auffassung, daß die Fragen der Zukunft für unsere Verbände wohl nicht in ausreichendem Umfang diskutiert werden. Gleichwohl gibt es Bemühungen, dem BdV eine Perspektive zu ermöglichen. Schon der vormalige BdV-Präsident Wittmann hat sich bemüht, für den Bundesverband finanziell mehr Unabhängigkeit zu erreichen. Bei der Landsmannschaft Ostpreußen wird diese Frage in den zuständigen Gremien schon seit Jahren erörtert. Im übrigen wird die Frage nach der Perspektive für die Vertriebenen auch durch die Realisierung unserer politischen Forderungen bestimmt.

Welche politischen Forderungen sind das?

Gottberg: Das Menschenrecht auf die Heimat muß endlich auch für die deutschen Vertriebenen und deren Nachkommen realisiert werden. Diesen Personen muß ein uneingeschränktes Rückkehrrecht in die Heimat eingeräumt werden. Damit von diesem Recht Gebrauch gemacht werden kann, müssen Rückkehrwillige die deutsche Staatsbürgerschaft behalten dürfen. Eigentumserwerb und ungehinderte Ein- und Ausreise müssen selbstverständlich werden. Zweisprachige Ortsschilder, eine staatlich geförderte Volksgruppenautonomie für Deutsche in den Regionen, in denen sie als Volksgruppe vorhanden sind, müssen in den betreffenden Staaten eine Pflichtaufgabe werden. Menschenverachtende Dekrete – ich denke an die tschechischen Benesch-Dekrete und die polnischen Gomulka-Dekrete, die während der Vertreibung Mord, Totschlag, Vergewaltigung straffrei gestellt haben – müssen aufgehoben werden. Wir warten schon lange auf eine offizielle Bitte um Vergebung durch Polen, Tschechien und Rußland für die völkermordartigen Vertreibungsverbrechen. Was die deutsche Schuld während der NS-Zeit an unseren Nachbarn angeht, haben wir aufrichtig um Vergebung gebeten und, soweit das möglich ist, materielle Schäden wieder gutgemacht. Schließlich erwarten wir von unseren Nachbarn im Osten die Bereitschaft, mit den Vertriebenen in einen Dialog einzutreten, der eine zumutbare Wiedergutmachung der individuellen Vermögensverluste thematisiert. Eine spezielle Forderung habe ich dem Bundeskanzler vorgetragen. Rußland muß für das Königsberger Gebiet die Visumspflicht aufheben.

Welche Erwartungen knüpfen Sie an die Wahl von Frau Steinbach zur BdV-Präsidentin?

Gottberg: Es ist derzeit so, daß Heimatvertriebene, die Zugeständnisse von den Vertreiberstaaten fordern, als Revanchisten stigmatisiert werden. Dies ist eine haltlose Verdächtigung. Die Heimatvertriebenen müßten offensiver als bisher ihre berechtigten Anliegen artikulieren. Frau Steinbach hat bei ihrer Arbeit als Abgeordnete des Bundestages bewiesen, daß sie ihre Meinung auch dann deutlich artikuliert, wenn diese mit der Mehrheitsmeinung ihrer Fraktion nicht übereinstimmt. Sie ist mutig und standfest. Die BdV-Präsidentin aber bedarf der Unterstützung des Präsidiums und der 16 Vorstände der Landesverbände. Auf diesem Feld gibt es einiges zu beklagen. Die Bedenkenträger und die politisch Korrekten sitzen in den eigenen Reihen. Persönlich erwarte ich von der neuen Präsidentin, daß sie in ihrer Partei überzeugend dafür wirkt, daß die Deutschen sich nicht aus der Verantwortung für 700 Jahre eigene Geschichte im Raum zwischen Oder und Memel herausstehlen. Eine wichtige Aufgabe für Frau Steinbach wird es auch sein, den BdV zusammenzuhalten.

Nach dem Grenzbestätigungsvertrag mit Polen gehören die alten deutschen Oder-Neiße-Provinzen nicht mehr zur Bundesrepublik. Dennoch sprechen Sie von einer fortdauernden Verantwortung für dieses Gebiet. Wie soll eine realistische deutsche Außenpolitik diese Widersprüche behandeln?

Gottberg: Abgesehen davon, daß die Heimatvertriebenen beim Abschluß des deutsch-polnischen Vertragswerkes nicht gefragt wurden, und wir immer gesagt haben, in der vorliegenden Form können wir die Verträge nicht mittragen, sehe ich die von Ihnen konstatierte Widersprüchlichkeit nicht. Die Forderungen der Vertriebenen sind gewiß nicht unbillig und nicht unrealistisch. Eine an deutschen Interessen orientierte Außenpolitik müßte sich diese Forderungen zu eigen machen und bestrebt sein, das Gleichgewicht im Geben und Nehmen zwischen der Bundesrepublik einerseits sowie Polen und Tschechien andererseits herzustellen.

Befindet sich der BdV durch die finanziellen Zuwendungen aus dem Bundeshaushalt nicht in einer politischen Abhängigkeit?

Gottberg: Der BdV, seine Landesverbände und die Landsmannschaften nehmen Aufgaben wahr, für die ein erhebliches Bundesinteresse besteht. Denken Sie an die gesetzliche Verpflichtung des Bundes und der Länder, die Kultur Ostdeutschlands zu erhalten. Für diese Aufgabe bedient sich die Bundesregierung des BdV. Insofern besteht keine Veranlassung, die Alimentierung des BdV als Geschenk zu werten und Wohlverhalten an den Tag zu legen. Gleichwohl: die Zuwendungsgeber in Bund und Ländern erwarten Rücksichtnahme auf parteipolitische Interessen. Dieser Erwartung wird nicht selten von Repräsentanten der Vertriebenen entsprochen. Abgesehen von dem Verhalten Niedersachsens, alle Mittel für das Patenland Schlesien ab 1990 zu streichen, ist mir kein Fall bekannt, wo öffentliche Geber wegen Unbotmäßigkeit der Vertriebenenverbände die Alimentierung versagt haben.

Sollte ab Herbst eine rot-grüne Koalition die Regierung bilden, ist nicht ausgeschlossen, daß dem BdV die finanziellen Mittel gestrichen, zumindest gekürzt werden. Steht dem Dachverband der Vertriebenen das Ende bevor?

Gottberg: Die Sorge, daß es so kommen könnte, ist nicht unbegründet. Zu oft haben insbesondere die Grünen, aber vereinzelt auch Abgeordnete der SPD bei den Haushaltsberatungen Streichung oder Kürzung der Mittel für den BdV gefordert. Jedoch wird im Herbst dieses Jahres der Haushalt für 1999 verabschiedet. Das Ende des BdV könnte frühestens im Jahr 2000 eingeleitet werden. Dies ist meines Erachtens nicht zu befürchten. Vor unserem gesetzlichen Hintergrund wird es mit einer möglichen Regierungspartei SPD keinen Nullansatz im Haushalt des Jahres 2000 für den BdV geben. Zahlreiche SPD-Parlamentarier sind gegenüber dem BdV aufgeschlossen. Mit Sicherheit werden wir jedoch finanzielle Kürzungen hinzunehmen haben. Das liegt nicht in erster Linie am möglichen Machtwechsel, sondern an der desolaten Haushaltslage des Bundes. Als Staatsbürger können wir davor nicht die Augen verschließen. Bemühungen, den BdV aus der finanziellen Abhängigkeit des Bundes etwas zu lösen, sind von existentieller Bedeutung.

Was motiviert Sie, sich für Ehrenämter in Landsmanschaft und Vertriebenenverband weiterhin zur Verfügung zu stellen?

Gottberg: Der Völkermord an den Ostdeutschen bei der Massenaustreibung 1945 und später war in dieser Dimension bisher einmalig in der Menschheitsgeschichte. Mindestens 2,5 Millionen Opfer sind durch diese ethnische Säuberung zu beklagen. Ich möchte, daß diese Toten einen Platz im Geschichtsbuch der Deutschen finden. Das ist bisher nicht gesichert. Über die Verbrechen, die an Deutschen begangen wurden, ist in der Welt wenig bekannt. Wenn man auf diesen Sachverhalt hinweist, hört man den Vorwurf, man wolle aufrechnen. Diejenigen rechnen auf, die unter Hinweis auf deutsche Schuld die Verbrechen an Deutschen klein reden. Was für Verbrechen die Deutschen auch immer begangen haben – nichts soll beschönigt oder bestritten werden –, das kann niemals den Völkermord an Ostdeutschen entschuldigen.

Darüber hinaus will ich dazu beitragen, daß 750 Jahre Deutschtum ostwärts der Oder nicht zu einer Fußnote in unserer Geschichte verkommen. Die Kultivierung Ostdeutschlands ist ein Ruhmesblatt in der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte.


 
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