© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/98 29. Mai 1998

 
 
Mechanik der Medien
von Roland Wuttke

Der Philosoph Karl Raimund Popper hat neben der Bevölkerungsexplosion und einem drohenden Nuklearkrieg die Macht und Möglichkeiten der Medien als eine der großen Gefahren des 21. Jahrhunderts vorausgesagt. In die gleiche Richtung gehen die Überlegungen des französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der analysierte, wie aufgrund unterschiedlicher Mechanismen die Medien zu einer Gefahr für das demokratische Leben werden können. Zwei Fernsehvorträge Bourdieus zu diesem Thema ("TV und Medienmacht", edition Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998) stellen eine sensationelle Systemkritik dar, so vorausgesetzt wird, daß dieses Medium ein wesentlicher Bestandteil zur Sicherung von Herrschaftsstrukturen in der modernen Politik darstellt. Welche Mechanismen sind wirksam, die es ermöglichen, allein durch die Kunst der Darstellung eine Person in den Status von Heiligen zu erheben, andere hingegen aus dem öffentlichen Disput auszugrenzen? Was bedeutet es für die Demokratie, wenn die Kriterien für Spitzenpolitiker deren Fernsehtauglichkeit und politisch korrektes Vokabular sind? Welche Folgen hat die Ideologie der Journalisten für die Informationsvermittlung?

Bourdieu sieht die unzensierte und direkte Rede als Form des Widerstandes gegen Manipulationen und deren Verursacher. Eine wichtige Bindefunktion zwischen Zuschauer oder Leser und Medium erfüllen die sogenannten "vermischten Meldungen". Es sind die klassischen Themen der Sensationspresse, die den Konsens herstellen und doch nichts Wichtiges berühren. Unter dem Druck der Einschaltquote wandern sie zunehmend an die vorderste Stelle. So erlange das Fernsehen eine Art faktisches Monopol bei der Bildung der Hirne eines Großteils der Menschen. "Das Grundprinzip von Zauberern besteht darin, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken als auf das, was sie gerade tun", sagt Bourdieu.

Ein anderer Aspekt ist der "Wirklichkeitseffekt" der im Fernsehen zur Geltung gelangt, denn er kann "zeigen" und erreicht dadurch, "daß man glaubt, was man sieht". Die beteiligten Journalisten "tragen eine spezielle Brille", mit der sie bestimmte Dinge sehen… sie treffen eine Auswahl, und aus dem, was sie ausgewählt haben, errichten sie ein Konstrukt". So kann auch versteckt werden. Der Wirklichkeitseffekt hat eine politische Dimension und möglicherweise eine mobilisierende Funktion. Bestimmte Gruppen können so ihre Existenz bevorzugt zur Geltung bringen, Druck ausüben und Vorteile erlangen, bis hin zum sogenannten Deutungsmonopol.

Was Bourdieu, ausgehend von französischen Verhältnissen, stark auf kommerzielle Einflußgrößen bezieht, gewinnt unter der traumatischen Ideologisierung des missionarischen Fernsehjournalismus hierzulande eine ungeahnte Aktualität. Das geschlossene Milieu und die gegenseitigen Abhängigkeiten produzieren einen Mikrokosmos, der sich von der gesellschaftlichen Wirklichkeit entfernt. "Niemand liest so viele Zeitungen wie die Journalisten, die im übrigen zu der Ansicht neigen, daß jedermann sämtliche Zeitungen läse. Um zu wissen, was man sagen wird, muß man wissen, was die anderen gesagt haben. Dies ist einer der Mechanismen, die Homogenität unter den Produkten erzeugen." Sofern jedoch Zuschauer durch Spezialwissen oder aufgrund anderer Informationen einen Fernsehbericht verifizieren können, ist diesem die suggestive Wirkung genommen, erscheint er unter dem Licht billiger Agitation als ein Spiel mit Halbwahrheiten und Behauptungen.

Die Agitationstendenz geht so weit, daß die gewünschte Aussage eines Sendebeitrages bereits von vornherein feststeht. Interviews und Filmszenen dienen nur noch der Untermauerung. Geben diese die erwartete Aussage nicht her, entfällt der ganze Beitrag oder er wird durch die Verwendung von Archivbildern und entsprechender Kommentierung in der gewünschten Form zusammengestellt. Gelegentlich muß der Journalist zur direkten Manipulation greifen, was dann aber im Falle der Entdeckung die scheinheilige Entrüstung der Kollegen zur Folge hat. So mußte ein Michael Born resümieren: "Ich sitze im Knast, weil ich die ungeschriebenen Gesetze und Regeln meiner Branche konsequent befolgt habe."

Als spezifische Komponente tritt in Deutschland die ideologische Präferenz hinzu, die politische Vorliebe für grüne und pazifistische Anschauungen, die unter Journalisten als Akt persönlicher Bewältigung, quasi in Form eines nachgeholten Widerstandes gegen das Nazi-Regime, besonders prägnant ist. Hier haben wir auch die bestimmten Schlüsselthemen, auf die Journalisten mit Pawlowschen Reflexen reagieren, wie etwa auf die Jenninger-Rede im November 1988. Dabei kam es bemerkenswerterweise gar nicht auf den Inhalt der Rede an, sondern auf das Konglomerat zwischen Person (potentiell zum Abschuß freigegeben), Thema (mit Wort- und Sprachtabus belastet) und Ort (Gedenkfeier anläßlich der "Kristallnacht" im Bundestag), das sich so hervorragend zur Inszenierung eigener Wachsamkeit eignete. Auf diese Weise entstehen auch die reproduzierten und "medien-induzierten Tabus" (vgl. Hans Wagner, "Medien-Tabus und Kommunikationsverbote", Olzog-Verlag, Landsberg 1991), die zu Denkverboten führen, deren Existenz schon gar nicht mehr wahrgenommen wird.

Der Wunsch vieler Journalisten, in die Politikerrolle zu schlüpfen (Peter Glotz nennt das "Publizistenideologie"), produziert die Methode, nicht das zur Debatte zu stellen, was die Gesellschaft bewegt, sondern das, was die Gesellschaft nach Meinung dieser Journalisten bewegen sollte. Die ideologische Ausrichtung der Programmdirektoren, Verleger und Redakteure erzeugt ein Pseudoethos, das bewertet und selektiert statt zu informieren.

In seinem Vortrag verweist Pierre Bourdieu darauf, daß Journalisten der Gefahr erliegen, ihre eigenen Neigungen, ihre eigene Optik auf das Publikum zu projizieren. Da ihre Kenntnisse der politischen Welt stärker auf persönlichen Kontakten beruhen als auf Recherche und Sachkenntnis, tendieren sie dazu, alles auf diese Ebene zu bringen, auf der sie sich so gut auskennen. Dieser Mikrokosmos mit seinen eigenen Gesetzen produziert "das bedeutungslose Geschwätz der Talkshows mit ihren immer wiederkehrenden und untereinander austauschbaren Teilnehmern", die stets disponibel sind und auf die Spielregeln eingehen.

Der Mikrokosmos erzeugt eine gegenläufige Entwicklung auf beiden Seiten des Fernsehschirmes. Auf der einen Seite können sich die Journalisten in einen "Bruch mit der Sichtweite der Öffentlichkeit" hineinmanövrieren, und auf der anderen Seite nimmt das Publikum die Pseudoprioritäten des Fernsehens an und sucht sogar seine Vorbilder in medialen Kunstfiguren.

Sofern die Aufmerksamkeit auf Banalitäten und weniger wichtiges gelenkt wird, bekommt das Sinnlose einen Sinn und die Manipulationsfähigkeit steigt. Wie das Funktionieren kann, hat das Fernsehen nach dem Tod der britischen Prinzessin Diana vor Augen geführt. Obwohl das Ableben der Prinzessin geringe politische Dimension besaß, beherrschte der Unfall wochenlang die Nachrichten- und Magazinsendungen. Die Worte von Botho Strauß wurden so zur beklemmenden Erkenntnis: "Das Regime der telekratischen Öffentlichkeit ist die unblutigste Gewaltherrschaft und zugleich der umfassendste Totalitarismus der Geschichte."

"Das Fernsehen besitzt das faktische Monopol über die Instrumente zur Herstellung und Verbreitung von Informationen auf nationaler Ebene" – aus dieser Erkenntnis leitet Bourdieu eine Gefährdung für das politische Leben ab, und zwar "im Gegensatz zu dem, was gerade verantwortungsbewußte Journalisten vermutlich in gutem Glauben denken und sagen". Politische Botschaften erhalten in Unterhaltungssendungen volkspädagogische Dimensionen. In Seriensendungen werden Klischees gepflegt und gesellschaftliche Randgruppen glorifiziert.

Ein Grund für die Popularität von Politikern und Wissenschaftlern ist ganz wesentlich deren Präsenz auf den Fernsehschirmen. Die Häufigkeit der Nennung ist wichtig für den Bucherfolg. Die Qualität der wissenschaftlichen Arbeit tritt in den Hintergrund. Dieser Mechanismus war ausschlaggebend für den Erfolg eines Daniel J. Goldhagen. Mit seinem Handstreich, der nur in Deutschland so erfolgreich funktionieren konnte, gelang dem Historiker der Einbruch in die intellektuelle Elite. Wissenschaft sinkt auf das Niveau eines Guido Knopp und ermöglicht die Aufbereitung komplexer Themen unter der Prämisse der Massenbeeinflussung.

Nicht nur die Hoheit über die öffentliche Themengestaltung obliegt dem Fernsehen, sondern auch die Kür bestimmter Personen, die jene ungeschriebenen Gesetze für den Medienerfolg verinnerlichen. So ist bemerkenswert, daß Politiker, wenngleich mit mäßiger politischer Bilanz, nahezu unangreifbar in ihrer Popularität sind. Sie werden durch gewogene Journalisten stets in positiver Weise dargestellt. Ausschlaggebend ist die politische Grundlinie der Person. Entspricht diese nicht dem konformen Moralkodex der dominierenden Journale, sieht die Sache ganz anders aus. Es genügt oft ein falsches Wort, ein politischer Standpunkt, der maßgeblichen Journalisten mißfällt, schon kann der Kandidat für die öffentliche Hinrichtung vorgemerkt sein. Pressekampagnen wie gegen Jenninger und Heitmann haben gezeigt, daß zu Beginn die politische Vorverurteilung steht. Im kontinuierlichen Trommelfeuer wird die Meute um so mutiger, je weniger Verbündete der Angegriffene hat. Während selbst RAF-Terroristen die Gelegenheit einer ausführlichen Selbstdarstellung erhalten, ist dann jenen Opfern der telekratischen Öffentlichkeit der Zugang zu den vorgeblich die Meinungsvielfalt repräsentierenden Medien versperrt.

In seinem Buch "Die Zensur der Nachgeborenen" hat Friedrich Denk die Kunstgriffe der Zunft beim Namen genannt: Suggestion, weglassen, vernebeln oder verstecken, gewichten, (selektiv) zitieren, Unwahrheit (verbreiten) und Hohn. Natürlich sind diese Kunstgriffe gebräuchlich, seit es Presse gibt. Doch deren zielstrebige Verwendung unter volkspädagogischer Prämisse ist ein Merkmal des deutschen Nachkriegsjournalismus geworden.


 
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