© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    21/98 15. Mai 1998

 
 
Die Union am Abgrund
von Oliver Geldszus

Nach sechzehn Jahren in der Regierungsverantwortung droht der Union nun erstmals wieder ernsthaft der Gang in die Opposition. Das zeigt sich nicht erst seit dem katastrophalen Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt. Generell scheint die Stimmung im Land seit Monaten schon auf einen Kanzlerwechsel angelegt zu sein. Dessenungeachtet klammert sich die CDU weiterhin an ihre Leitfigur Kohl, dessen Zeit ohnehin allmählich abläuft. Nach seiner unbestrittenen Lebensleistung der Wiedervereinigung stagniert die innere Einheit Deutschlands. In der Frage des Euro kann er sich nicht auf die Mehrheit der Bevölkerung stützen. Sein Eurotrip ist vielmehr psychologisches Produkt des Aussöhnungsbedürfnisses seiner Generation, deren politisches Bewußtsein mit dem deutschen Kollaps 1945 einsetzt. Der zunehmende Entfremdungsprozeß, der sich gerade auf europäischer Bühne manifestiert, fügt sich letztlich zum Bild vom Kanzler ohne Volk. Auch Kohls oftmals zu Recht gerühmter politischer Instinkt schwindet zunehmend. So hatte er bis zur Niedersachsenwahl auf den alten Rivalen Lafontaine als SPD-Gegenkandidaten
gesetzt.

Das Problem der CDU ist vor allem die Tatsache, daß es neben Kohl keine Führungsköpfe gibt; sie kann zur Zeit nur mit ihm siegen oder untergehen. Innerparteiliche Kontrahenten wie etwa Biedenkopf, Geißler oder Späth wurden von ihm beizeiten abgedrängt. Auch beim designierten Kronprinzen Schäuble stellt sich die Frage, ob seine Nominierung als Kohls Nachfolger nicht bereits der Beginn einer sanften subtilen Demontage gewesen ist. Nie jedenfalls war dessen Autorität in den letzten Jahren stärker unterminiert worden als nach dem Leipziger Parteitag. Der Fraktionschef hat seine Hausmacht vor allem bei der jungen Generation sowie bei alten Kritikern wie Heiner Geißler, der am liebsten für Schäuble Wahlkampf führen und "Danke schön"-Plakate auf den Kanzler kleben würde. Die "Jungen Wilden" setzen zum Teil auf Schäuble, profilieren sich andererseits selbst, um sich für die Nach-Kohl-Ära zu empfehlen. Dagegen halten Protagonisten der Ministerebene wie Rühe oder Rüttgers weiterhin vornehme Distanz zum Fraktionschef, weil sie sich selbst Hoffnungen auf die Kronprinzenrolle machen. Hinter dem Rücken des Alten haben die Machtkämpfe für die Zeit seiner Pensionierung längst begonnen.

Noch einmal aber soll Kohl es als einzige Integrationsfigur des bürgerlich-konservativen Lagers richten. Besondere Bedeutung kommt dabei dem von Schäuble erarbeiteten Wahlprogramm mit den Schwerpunkten Steuerreform, innere Sicherheit und Energiesteuer zu. Kohl-Beratern freilich ist das Programm "zu kalt und zu technokratisch"; und das Wort Gott, so wurde intern moniert, käme erst nach 43 Seiten vor. Schäuble will den Deutschen einen anstrengenden und unbequemen Wahlkampf zumuten, während Schröder bekanntlich den Weichspülgang wählt. Generell ist Kohls taktischer Versuch, im Bundestagswahlkampf Themen zu besetzen im Gegensatz zum talentierten Selbstdarsteller Schröder, der im Moment alles und nichts repräsentiert, mit Sicherheit nicht falsch. Kohl ist nicht Schauspieler genug, als daß mit ihm eine moderne medienwirksame Inszenierung à la Clinton oder Blair möglich wäre; der Pfälzer steht für Bodenständigkeit und Kontinuität.

Den zum Teil chaotischen Zustand in der CDU kann man allein daran ablesen, daß der Wahlkampf nicht zentral organisiert ist. Darüber hinaus versucht die CSU immer wieder, die Ideen des Ideologen Schäuble zu konterkarieren. Generalsekretär Hintze hat längst nicht alle Fäden in der Hand. Ihm verbleiben PR-Aktionen gegen grüne Utopien an den Tankstellen. Noch vor kurzem ließ er das Konterfei des Kanzlers in Verbindung mit der Hoffnung auf einen starken Euro kleben. – Deutlicher konnte man kaum an der Stimmungslage in der Bevölkerung vorbei plakatieren. Ohnehin hat die CDU das Problem, im Vorfeld bereits zu starr den gesamten Wahlkampf auf die europäische Währungsunion und die Rolle des Staatsmannes Kohl abgestimmt zu haben. Dies wurde nun auch der CDU-Wahlkampfführung im Vorfeld des Bremer Parteitages klar und führte hier zu neuen Überlegungen und hektischen Aktionen. So läßt Hintze jetzt anhand eines Stabhochspringers allgemein wissen, daß der Aufschwung unaufhaltsam kommen werde.

Die Situation der Union läßt auch Raum für weiterreichende Überlegungen jenseits der monatlichen Wahlprognosen zu. Denn Tatsache ist, daß das Stammwählerpotential der CDU zunehmend bröckelt. Einen bedeutenden Stützpfeiler der Wahltriumphe Kohls bildete stets die Rentner- und Pensionärsschicht, die bereits Adenauer im Kalten Krieg das Vertrauen geschenkt hatte und für die konservative Leitbilder noch etwas galten. Mitte der sechziger Jahre begann sich die erste Nachkriegsgeneration in Opposition zu ihren Eltern von den nationalen konservativen Werten zu distanzieren. Die Avantgardisten und ihr Gefolge stellen nunmehr die etablierte Mittelschicht dar und sind für die CDU in der Regel nicht erreichbar, denn das linksliberale Lager ist relativ gefestigt.

Die alte katholisch geprägte Adenauer-Republik hat sich mit der Wiedervereinigung aufgehoben. Das neue Deutschland wird "nördlicher und protestantischer", wußte schon 1990 der Hamburger Volker Rühe. Die protestantische Schicht in der Ex-DDR steht in der Tradition der Bürgerbewegungen und mehrheitlich den linken Parteien nahe. Zunehmend hat die CDU auch ihre sozialkatholischen Wurzeln verloren, die eine gewisse Volksnähe garantierten. In den siebziger und achziger Jahren fand der katholisch engagierte Nachwuchs häufig links der Union seine neue politische Heimat. Ehemalige Stammländer wie das Saarland oder Nordrhein-Westfalen wurden dauerhaft an die SPD verloren. Die neuzeitlichen Yuppies der "Jungen Wilden" sind in der Regel reine Parteikarrieristen ohne Stallgeruch, denen außer Wirtschaftsliberalismus keine Konfession bekannt ist.

Auch bei der Jugend hat die CDU wie die anderen etablierten Parteien wenig Kredit. Die Sympathien liegen hier bei den Grünen oder gleich bei mehr oder weniger extremen Parteien auf der Linken und Rechten; gerade hier verbirgt sich die Attraktivität des Neuen und Verbotenen wie nicht nur das Beispiel Sachsen-Anhalt zeigt. Ohnehin ist das Wahlverhalten in Mittel- und Ostdeutschland instabil. Kohls Erfolge 1990 und auch noch 1994 waren kein Ergebnis einer Parteigebundenheit, sondern vielmehr einer wirtschaftspolitischen Überlegung. Die westdeutsche Parteiendemokratie wird hier ohnehin emotionsloser und unverkrampfter gesehen. In weiten Teilen der Bevölkerung bis hin zur bürgerlichen Mitte gibt es ein aus der kommunistischen Vergangenheit herübergerettetes stärkeres Nationalbewußtsein, das sie sofort in die Lage versetzen würde, für eine ernstzunehmende rechte Partei zu votieren. Aber ebenso wird sich auch in Westdeutschland eines Tages der Trend der CDU zur Mitte bis hin zur zweiten sozialdemokratischen Partei sowie die ausgebliebene "Wende" von 1982 rächen.

Ein weiteres Problem für die Union stellt die generelle Erosion des Bürgertums seit 1918 innerhalb der abendländischen Kulturentwicklung dar. Dieser Trend äußerte sich bereits in der Weimarer Republik in dem starken Zulauf, den Kommunisten und Nationalsozialisten auf sich vereinigen konnten. – Beide begriffen sich als dezidiert antibürgerliche Bewegungen. Nach 1945 kam es noch einmal zur Restaurierung der alten bürgerlichen Epoche, für die es keinen besseren politischen Repräsentanten geben konnte als Konrad Adenauer.

Die Kultivierung einer gewissen Bürgerlichkeit in Form und Haltung sowie in moralischer Hinsicht stellte dabei auch immer eine Distanz zum Dritten Reich sowie eine wirksame Abgrenzung zum Kommunismus her. Nicht zufällig organisierte sich in den Ostblockstaaten der Widerstand in der Regel in Form einer Bürgerbewegung. Dessenungeachtet geht der soziologische Trend, allein demographisch betrachtet, unweigerlich in Richtung Massengesellschaft; alte bürgerliche Tugenden und Werte werden zum Teil übernommen, während sich das Bürgertum längst im allumfassenden Staatsbürgerbegriff aufgelöst hat.

Die Entbürgerlichung in Deutschland wurde in den sechziger und siebziger Jahren vor allem durch eine radikale Amerikanisierung der Bevölkerung vorangetrieben. Die CDU hatte auf diese Tendenz zu Recht mit dem Versuch der Umwandlung in eine Volkspartei reagiert. Daß bürgerliche Parteien im Niedergang begriffen sind, zeigt der schleichende Abgang der FDP. Auch in Ländern wie Frankreich oder Italien schwindet zunehmend die alte Klientel des bürgerlichen Parteienlagers. Desorientierungen und Wahlniederlagen sind die Folge.

Daß mit der CDU die Partei, die wie keine zweite das Gesicht der alten Bundesrepublik geprägt hat, nun nach deren natürlichem Ende vor einem Umbruch steht, ist normal und könnte kaum anders sein. Inwiefern die Union in der Lage sein wird, sich als konservative Volkspartei zu finden und auf die Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts zu reagieren, wird über ihre künftige Entwicklung entscheiden. Ohnehin findet jede Zeit ihre angemessenen politischen Exponenten, während Parteien vergänglich sind.


 
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