© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    20/98  08. Mai 1998

 
 
Pankraz, H. Heine und die neue Bonner Rhetorik der Ratten

Die nach der Protestwahl der Zwanzigjährigen von Sachsen-Anhalt sich entfaltende "Rhetorik des Entsetzens" in den Medien und in Bonner politischen Kreisen stand und steht ganz im Zeichen der Ratte. In den Kommentaren und Interviews wimmelt es plötzlich von Ratten ("braunen Ratten") bzw. von hinterhältigen Rattenfängern.

Selbst der deutsche Bundespräsident (an sich von Amts wegen zur Zurückhaltung verpflichtet, da er das ganze Volk und nicht nur die ihm persönlich genehmen Wähler repräsentiert) warnt nun in seinen Donnerpredigten vor "Rattenfängern", wobei auch bei ihm nicht klar wird: Meint er Leute, die Ratten fangen, oder meint er Leute wie den legendären "Rattenfänger von Hameln", der einst als sogenannter "Locutor" kecke, vom Alltag enttäuschte Jungen zu neuen Aufbrüchen und Abenteuern im Osten verlockte?

Die meisten Kommentatoren der letzten Tage, das ist völlig klar, benutzten die Ratten-Rhetorik als Instrument der Beschimpfung. Wer nicht so wählte, wie sie es gern gehabt hätten, wurde mit einer Ratte verglichen, um damit intellektuell und moralisch herabgesetzt zu werden. Pankraz als studierter Biologe und ziemlich guter Tierkenner findet das komisch, denn die Ratte ist eines der klügsten Tiere, die es gibt, und darüber hinaus eines der altruistischsten, d.h. sie opfert sich gegebenenfalls für die angestammte Gemeinschaft auf, wie das kein Löwe und kein Adler jemals tun würde.

Wenn ein Rattenvolk an etwas Eßbares gerät, von dem es nicht weiß, ob es eventuell vergiftet ist, schickt es mutige Jünglinge vor, die als Vorkoster fungieren. Sie essen die verdächtigen Brocken, und der übrige Stamm wartet ab, ob sie leben bleiben oder sterben. Sterben sie, sind die Brocken als giftige Köder enttarnt und werden fortan gemieden.

Stärkeren Gegnern weicht die Ratte aus, aber nur solange, solange sich realistische Fluchtmöglichkeiten eröffnen. Gibt es diese Fluchtmöglichkeiten nicht mehr, wird die Ratte also "gestellt", in die Ecke getrieben, so mobilisiert sie alle ihre Abwehrkräfte, wie gewaltig der Gegner auch sein mag, und liefert ihm einen finalen Kampf, der jeder mutigen Natur Achtung abnötigt. "He fights like a cornered rat", sagen die Engländer ehrfürchtig, wenn sie einen besonders kühnen, fintenreichen Kämpfer charakterisieren wollen.

Für die Chinesen, die ihren Kalender nach Tierzeichen einteilen, ist das "Jahr der Ratte" das glücklichste Jahr überhaupt, glückverheißender als das "Jahr des Drachens" oder das "Jahr des Schweines", vom unheilschwangeren "Jahr des Tigers" zu schweigen. Asienreisende können beobachten, wie die Dorfkinder dort ganz ungeniert mit zahmen oder halbzahmen Ratten spielen, sie auf ihrer Schulter reiten und an ihrem Ohr knabbern lassen. Das ist ein allerliebster Anblick.

Im Abendland ist das seit der großen, von Wanderratten eingeschleppten "Schwarzen Pest" von 1346 und ihren Verheerungen anders. Hier flößt die Ratte, zumindest die zu großen Massen sich formierende und die Unterwelt der Kanalisation bevölkernde, Grauen ein, dem allerdings heimlicher Respekt beigemischt ist, weil die Ratte offenbar das einzige höhere Säugetier ist, das vom Menschen, trotz aller einschlägigen Bemühungen, nicht ausgerottet werden kann und das die Menschheit dereinst überleben wird.

Die wirklich guten Rhetoren der deutschen Literatur, Goethe, Heine, Wilhelm Busch, haben der Ratte, ihrer "Ebenbürtigkeit", ihrer Mobilität und Globalität, denn auch durchaus Reverenz erwiesen. Heine reimt in seinem Gedicht "Die Wanderratten" gutgelaunt: "Es gibt zwei Sorten Ratten: /Die hungrigen und die satten. /Die Satten bleiben vergnügt zu Haus, /Die Hungrigen aber wandern aus." Und Wilhelm Busch, mit umgekehrter Perspektive: "Gute Tiere, spricht der Weise, / Mußt du züchten, mußt du kaufen, /Doch die Ratten und die Mäuse /Kommen ganz von selbst gelaufen."

Bei Goethe erreicht die Apologie der Ratte bekanntlich fast schon skandalöse Ausmaße. Seine fröhlichen Studenten in Auerbachs Keller vergleichen sie direkt mit dem großen Reformator Luther: "Es war eine Ratt’ im Kellernest, /Lebt nur von Fett und Butter, /Hatt’ sich ein Ränzlein angemäst’ /Als wie der Doktor Luther." Aber ob Heine, Busch oder Goethe – die Botschaft ist stets die gleiche. Ratten, so lautet diese Botschaft, sind wie Wechselwähler, wie Protestwähler; geht es ihnen gut, sind sie vergnügt und zufrieden, geht es ihnen schlecht, geraten sie ins Laufen und wandern aus, folgen dem "Rattenfänger".

Insofern ist der neuen Bonner Ratten-Rhetorik eine gewisse Logik nicht abzusprechen. Freilich, wer gegen die Ratten ist, der müßte eigentlich für (und nicht gegen) die Rattenfänger sein, denn diese nehmen die unbequemen, "überflüssigen", "schädlichen" Ratten ja hinweg, bringen sie aus dem Blick, führen sie hinaus in unbekannte Gefilde. Aber die Kommentatoren wissen wohl längst, daß es mit "neuen, unbekannten Gefilden", in die man die eigenen Ratten wegführen könnte, nicht weit her ist, daß statt dessen immer mehr Wanderratten von draußen zuziehen, so daß den autochthonen Hausratten allmählich die Luft abgeschnürt wird.

Deren Lebenssituation ist nicht mehr diejenige ihrer kecken Vorfahren, die der Locutor von Hameln einst nach Osten lockte, sondern sie gleicht zunehmend der Situation jener in die Ecke getriebenen Ratten, die die Engländer im Sinn haben, wenn sie von "fighting like a cornered rat" sprechen. Die dominierende Stimmung, die diese Hausratten zu ihrer Wahlentscheidung trieb, war das Bewußtsein der Ausweglosigkeit, die Wut und die wachsende Lust auf finalen Verzweiflungskampf.

Ratten-Rhetorik, Beschimpfung, verbale Ausgrenzung bessern natürlich nichts. Wer in der Ecke steht, der wird durch so etwas nur weiter angefeuert.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen