© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    18/98 24. April 1998

 
 
Kriminalität: Der Überwachungsstaat kommt, wenn die Schlagbäume fallen
Kontrolle ohne Grenzen
von Martin Otto

Es könnte alles so schön werden: Der Euro kommt, die Grenzen werden wie Schiebetüren im "Haus Europa" geöffnet, die Menschen rücken zusammen … Doch seit an den Schlagbäumen gesägt wird, wachsen die Probleme mit grenzüberschreitender Kriminalität und Wanderungsbewegungen von Billigarbeitskräften.

Am dritten Jahrestag des Schengener Abkommens zum Abbau der Binnengrenzen in der EU wollte der Bundesminister des Innern jetzt eine positive Bilanz ziehen. Nicht genug, daß die Unionsbürger ohne lästige Kontrolle von einem Land zum anderen reisen dürfen, sofern sie nicht die EU-Außengrenze überschreiten wollen; auch, und das ist die frohe Botschaft des Innenministers, die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität gelingt trotzdem, den "Ausgleichsmaßnahmen" sei es gedankt. Mehr noch, jubiliert Kanther, die "Ausgleichsmaßnahmen" (verwendet wird in der ministerellen Sprache durchgängig dieser vieldeutige Begriff) werden zum wichtigsten Instrument der Verbrechensbekämpfung nach dem Wegfall der Personenkontrollen an den "Binnengrenzen".

Wenn sich im Mai die Innenminister in Kaiserslautern zu ihrer ständigen Konferenz treffen, werden auch die "Standards zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit in der EU" auf der umfangreichen Tagungsordnung stehen, auf Antrag Baden-Württembergs. Und Innenminister Schäuble (CDU) macht hier schon seit über einem Jahr erfolgreich vor, wie man Ausgleichsmaßnahmen schafft. Kontrolliert wird hier auch weiterhin, jetzt sogar ganz unabhängig von den Grenzen. Die "verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrolle" macht es möglich.

Seit der Stuttgarter Landtag 1996 das Polizeigesetz änderte, dürfen die Polizisten dort auch ohne einen konkreten Anlaß auf öffentlichen Straßen und "Einrichtungen des internationalen Verkehrs", also Flughäfen, Bahnhöfen und Raststätten, Personenkontrollen durchführen. Bereits 1997 wurden 119.000 Kontrollen erfolgreich durchgeführt, 3428 Personen konnten festgenommen werden. Die Kriminalitätsrate? Trotzdem steigend. Der glückliche Innenminister sieht seine Erwartungen an das "Kontrollinstrument" dennoch voll erfüllt. Mehr noch: die "Bürgerinnen und Bürger" würden für diese vermehrten Personenkontrollen nicht nur Verständnis zeigen, sondern, wie es das Stuttgarter Ministerium mitteilt, "dieses Engagement auch fordern." Alles reine Bürgerfreundlichkeit? Bayern war das erste Bundesland, das mit "Schleierfahndung", ereignisunabhängigen Personenkontrollen und anderen Mechanismen neue Wege der Überwachung beschritt. Baden-Württemberg folgte. Die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Schon fordern Politiker wie der CSU-Bundestagsabgeordnete Singhammer Beschränkungen der Freizügigkeit für EU-Bürger, um deutsche Arbeitnehmer vor Lohndumping zu schützen. Sollten Länder wie Zypern oder Polen der EU und dem Schengener Abkommen beitreten, womit ja bald zu rechnen ist, sieht nicht nur er ein immenses Lohngefälle innerhalb des neuen grenzenlosen Schengen-Gebietes entstehen. Die Abhilfe: Beschränkungen der Freizügigkeit durch neue Kontrollen, unabhängig von den Grenzen. Mit jedem Millimeter Grenze, der durch die vielgepriesene europäische Integration abgebaut wird, werden neue Kontrollmechanismen geschaffen. Da erscheint die altmodische Grenzkontrolle fast wie eine kaum wahrnehmbare Beschränkung der Freizügigkeit. Gegenüber den "verdachtsunabhängigen Personenkontrollen" hat sie den Vorteil, einen konkreten Personenkreis zu treffen. Ein Verzicht auf Grenzkontrollen macht nur Sinn, wenn die Grenze ihrer Funktion beraubt ist. Jeder Politiker weiß, daß im Schengen-Gebiet die Voraussetzungen für einen Verzicht auf Kontrollen noch lange nicht gegeben sind. Trotzdem wird der Kreis der beteiligten Staaten immer weiter ausgedehnt. Die Ausgleichsmaßnahmen lassen nicht auf sich warten. Früher wurde nur an Grenzen kontrolliert, jetzt bald überall. Mit jedem Weniger an Grenze werden Schlupflöcher errichtet, die auch durch noch so intensive Kontrollmaßnahmen nicht ausgegelichen werden können. Freie Bahn für Verbrecher, als Kompensation ständige Überwachung für unbescholtene Bürger. So haben wir uns das nicht vorgestellt. Der Preis für die Freizügigkeit im grenzenlosen Europa ist hoch. Er geht auf Kosten des Grundrechtschutzes


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen