© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Kredit verspielt
von Georg Bensch

Fünf Monate vor der Bundestagswahl muß der Befund die Strategen in den Bonner Schaltzentralen der Parteien aufhorchen lassen: Immer mehr Mitglieder wenden sich von den Parteien ab und geben frustiert ihre Mitgliedsausweise zurück.

Den Unmut der Bürger bekommen insbesondere die etablierten Parteien zu spüren, denen nicht nur die Wähler davonlaufen, sondern auch ihre Mitglieder. So haben die großen Parteien in Deutschland allein im vergangenen Jahr mehr als 45.000 Mitglieder verloren. Von diesem Mitgliederschwund am stärksten betroffen war die SPD, die 1997 rund 20.000 Parteigenossen verlor. Aus der CDU traten rund 15.000 Parteimitglieder aus, und bei der FDP waren es etwa 4.000, die ihrer Partei den Rücken kehrten. Auch die Bündnisgrünen blieben im vergangenen Jahr von Parteiaustritten nicht verschont; sie verloren fast 2.000 Mitglieder. Von der PDS schließen trennten sich rund 5.000 Genossen. Die CSU konnte hingegen einen Mitgliederzuwachs von 1.600 verbuchen, und auch die Republikaner verzeichneten 1997 einen leichten Anstieg der Mitgliederzahlen.

In den etablierten Parteien macht sich angesichts dieser Entwicklung Unruhe breit, Spitzenpolitiker aller Couleur sorgen sich um ihre Wahlaussichten. Zwar geben sich Parteiführer und Wahlkampfmanager nach außen optimistisch, doch machen alle Parteien den Eindruck des Ausgebranntseins. In der Bevölkerung indes nehmen Unsicherheit und Ängste zu. Viele Deutsche bangen um ihren Arbeitsplatz, ihre Alterssicherung, um die Vorsorge für den Krankheitsfall. In den Ballungsräumen kommt das Gefühl der Bedrohung durch Kriminalität aller Art hinzu. Der vielerorts unübersehbar hohe Anteil von Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen weckt Aversionen. In den neuen Bundesländern herrscht zudem Enttäuschung über das unerfüllt gebliebene Versprechen, "blühende Landschaften" entstehen zu lassen. All das verstärkt den Eindruck mangelnder Kompetenz der Parteien für die Problembewältigung und trägt zur Entfremdung zwischen einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung und den gewählten Politikern bei. Kein Wunder, wenn sich immer mehr Menschen in Deutschland von den Parteien zurückziehen und die Zahl der Nichtwähler steigt.

Dauerquerelen, Zerstrittenheit und Postenschiebereien bescheren den Parteien einen kaum noch zu bremsenden Auszehrungsprozeß. Nach jüngsten Meinungsumfragen finden 48 Prozent aller Deutschen zwischen 16 und 25 Jahren ihre Belange in keiner der etablierten Parteien ausreichend berücksichtigt. Anders ausgedrückt: Die etablierten Parteien haben ihren Kredit bei der jungen Generation verspielt.


 
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