© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Pankraz, G.W. Leibniz und der Geist im Expo-Gehirn 2000

Mit Fassung, ja, erleichtert liest Pankraz in der Zeitung, daß die Hannoveraner ihr für die Expo 2000 geplantes Riesengehirn nun doch nicht bauen werden, aus Geldmangel. Zentrale Attraktion der Superschau sollte ursprünglich die gigantische Nachbildung eines menschlichen Gehirns sein, in das die Besucher hineinspazieren konnten, um "hautnah" (genauer: neuronennah) die "Entstehung des Denkens" mitzuerleben und so "teilzunehmen an den rasanten Fortschritten der modernen Gehirnforschung". Damit wird es nun also nichts, der Finanzbehörde sei Dank.

Auch Hannovers Ortsheiliger, Gottfried Wilhelm Leibniz, hätte wahrscheinlich aufgeatmet. Schon in seiner Zeit, der Barockzeit des siebzehnten Jahrhunderts, hatte man einmal den Bau eines begehbaren Riesengehirns erörtert, freilich nicht als elektrisch zwitschernde und funkelnde Neuronen-Landebahn, sondern als Uhrwerk. Jede Zeit hegt eben ihr eigenes "Paradigma" über die Entstehung des Denkens, und das Paradigma des Barock war die Uhr. Leibniz amüsierte sich darüber.

Die Besucher des Expo-Gehirns von 1698 hätten sich gefühlt wie im Inneren einer ungeheuren Kirchturmuhr. Sie wären empfangen worden vom lauten Ticken und Rucken überdimensionaler Zahnräder, die unheimlich wie Geisterfinger ineinandergriffen. Gewaltige Perpendikel hätten regelmäßig den Raum durchschnitten, und hin und wieder wäre irgendwo zum großen Erschrecken der Jungfern und Kinder ein klobiges Gewicht heruntergepoltert, um sich anschließend unter Ächzen und Gestöhn selbst wieder aufzuziehen.

All dies, meinte Leibniz, wäre zweifellos sehr interessant und lehrreich gewesen, aber mit dem Denken hätte es nichts zu tun gehabt. Einem Gedanken, einem Gefühl, einem Einfall, einem Zorn oder einer Berechnung wäre man in der großen Maschine an keinem Ort begegnet, man hätte sich die Gedanken als unsichtbare Gespenster dazudenken müssen, ohne die geringste Garantie, daß die Zahnräder, Perpendikel und Gewichte auch wirklich etwas mit ihnen zu tun hätten. Die ganze Veranstaltung wäre nichts weiter als eine gebaute Hypothese gewesen, eine Vermutung, ein Fragezeichen.

 

Und kein Gran anders, fügt Pankraz nun hinzu, wäre es mit dem Expo-Gehirn 2000 gewesen. Natürlich, alles wäre viel, viel moderner ausgefallen. Statt Uhrwerk Disneyland, statt Zahnrädern Elektronenblitze, statt Perpendikeln Neuronenbefeuerung. Aber einem Gedanken, einem Einfall oder einer Berechnung wäre man auch jetzt nirgendwo begegnet. Und man hätte auch jetzt nicht die geringste Garantie gehabt, daß die gezeigten Vorgänge überhaupt etwas mit der Sache des Denkens selbst zu tun hätten.

Nach wie vor gilt Leibnizens Feststellung, daß wir im Hinblick auf das Verhältnis von Gehirnstruktur und Gedanke logischerweise nur von einer "prästabilierten Harmonie" sprechen können, nicht von einem Kausalnexus dergestalt, daß die Zahnräder und Perpendikel, beziehungsweise die Neuronen und ihre Landebahnen, den Gedanken "hervorbringen". Wir denken etwas, und parallel dazu finden im Gehirn gewisse biologisch-chemische Reaktionen statt, mehr ist nicht, und mehr kann nicht sein.

Die Neurologen sind ungeheuer stolz darauf, daß sie immer mehr mentale Vorgänge künstlich erzeugen, also gegen den Willen ihrer Versuchspersonen zwanghaft auslösen können. Sie kitzeln irgendwelche Gehirnregionen, und der Gehirnbesitzer muß unwillkürlich lachen, als würden ihm die Fußsohlen gekitzelt, oder er kriegt plötzlich Appetit auf Gesalzenes oder möchte sofort mit seiner Frau ins Bett gehen. Ist damit bewiesen, daß das Gehirn "für uns" denkt? Davon kann nicht im Entferntesten die Rede sein.

Bewiesen ist lediglich, daß der Operator, der Kitzler und Reizer, für sein Opfer gedacht hat. Ein Wille ist gegen einen anderen ausgetauscht worden. Das Gehirn selbst "will" nichts, es ist ein Instrument, es "steht zur Verfügung". Selbstverständlich ist es ein notwendiges Instrument, wir brauchen es, damit wir denken können. Und es ist ein außerordentlich feines, empfindliches Instrument, andererseits außerordentlich robust, und vielseitigst einsatzfähig.

 

Darin besteht ja das größte Faszinosum der neuen Gehirnforschung: daß sie an den Tag gebracht hat, wie ungeheuer flexibel dieses Organ "sich verhält", welch ungeheure Möglichkeiten, Reserven und Ersatzteile es in sich enthält. Gewiß, manche Regionen sind (zur Zeit noch?) unersetzbar; wenn sie zerstört oder auch nur beschädigt werden, verabschiedet sich unsere Seele oder unser Wille in die Dunkelheit. Aber wir wissen inzwischen auch, daß die seelischen Vorgänge keineswegs durchweg mit bestimmten "Punkten" des Gehirns verbunden sind, daß dieses kein Modellbaukasten ist, sondern eine "dynamische Gesamtheit", wie es so schön heißt, eine Art Ameisen- oder Termitenstaat, ein unendlich elastisches System, dessen einzelne Glieder sich in unaufhörlich wechselnden Funktionen bewähren.

Doch noch einmal: Dieser Termitenstaat "will" für sich nichts, sein "Wille" erschöpft sich in der optimalen Dienstbereitschaft für die Seele, für die "res cogitans", der er in prästabilierter Harmonie verbunden ist. Die res cogitans ihrerseits erschöpft sich durchaus nicht im Dienst am Gehirn, ihr Dienstherr hat eine andere Adresse oder gleich mehrere, die etwa "menschliche Kommunikationsgemeinschaft" heißen oder "kategorischer Imperativ" oder "amor Dei". Dort, bei diesen Adressen, muß sich der Mensch bewähren, und da ist es gut, wenn er mit einem halbwegs intakten Gehirn antritt.

Das Expo-Gehirn 2000 hätte diese Dimensionen nie und nimmer auch nur einigermaßen adäquat abbilden können, es hätte im Gegenteil die Illusion erzeugt, daß der Mensch voll und ganz in Disneylandgeflimmer aufgeht und weiter nichts dahintersteckt. Ein Alptraum, der durch erfreulichen Geldmangel ausblieb.


 
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