© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Anatomie des Gesinnungsstaates
von Frank Lisson

Es ist mittlerweile zum öffentlichen Geheimnis geworden, daß sich der Anspruch eines Staates, ein freiheitlicher zu sein, nicht unbedingt mit der Wirklichkeit der politischen Verhältnisse decken muß.

Im 19. Jahrhundert fürchtete man auf konservativer Seite, daß, nach antikem Verfassungskreislauf, auf die Demokratie die Tyrannis folgen müßte, weil sich das Volk leicht von Demagogen verführen lassen würde. "Tyrannis" bedeutete nach dem Verständnis der Alten nicht unbedingt Gewaltherrschaft, sondern die "unrechtmäßige", das heißt zumeist putschartige Machtergreifung eines Autokraten oder einer Familie, die ihre Herrschaft auf die Masse stützte, indem sie ihr Zugeständnisse machte.

In modernen Demokratien ist eine solche Entwicklung kaum zu befürchten. Dafür sehen sich diese einer anderen endogenen Gefahr ausgesetzt: heute tritt die Nachfolgeform der Demokratie nicht mehr in Gestalt eines sich der Masse anbiedernden Demagogen auf, sondern viel subtiler – als Mediokratie.

Die Mediokratie hemmt den evolutionären Entwicklungsprozeß der Geschichte, da sie wie kein anderes System Macht über das Denken und die Meinung der Massen gewinnt und deren Willen und Handeln manipuliert. Das hat eine geistige Bewegungslosigkeit zur Folge, die eine Veränderung des Status quo selbst dann verhindern kann, wenn sich ein System offenkundig längst überlebt hat. Der für jede fruchtbare Demokratie beizeiten notwendige Austausch ihrer Eliten findet nicht statt. Es kommt zu keinem politischen Wechsel mehr, weil es keine ernsthafte Gegenkulturen, keine wirklichen Alternativen mehr gibt. Statt dessen züchtet eine politische Kaste nur noch ihresgleichen und versteht es, über die mediokratischen Mittel die Massen leicht an sich zu binden.

In einem solchen Klima gedeiht das, was man zum Unterschied zur "offenen" Totalität die "verdeckte" Totalität nennen könnte. In offen totalitären Staaten ist es üblich, keine wirkliche, die eigene politische Kaste gefährdende Opposition zuzulassen. Man kämpft für eine Idee, die das "Gute" verkörpert und macht keinen Hehl daraus, sich wenig um die Ansichten derjenigen zu scheren, die diesen Ideen nicht anhängen. Verdeckt totalitäre Staaten können sich dagegen eine solche Unbeschwertheit im Umgang mit den Methoden der Machterhaltung nicht leisten. Sie müssen zumindest vorgeben, auch die Freiheit der Andersdenkenden zu erhalten, weil sie in dem Argument, "demokratisch" und damit den offenen totalitären Staaten überlegen zu sein, ihre moralisch wirkungsvollste Waffe haben. Dabei kann das bloße Bekenntnis, "demokratisch" zu sein, leicht zur reinen Phrase werden, die einer Prüfung auf Kohärenz von Aussage und Inhalt nicht unbedingt standhalten muß. Das von der politischen Kaste verliehene Prädikat, "Demokrat" zu sein, entscheidet aber in verdeckt totalitären Staaten darüber, ob jemand am öffentlichen Diskurs teilhaben darf oder nicht. Offene Totalität nimmt von vornherein dem Gegner das Recht auf Artikulation, verdeckte Totalität läßt zwar formell Opposition zu, kriminalisiert diese aber, sobald sie in Erscheinung tritt, grenzt ihre Vertreter aus und verhängt die Acht der sozialen Isolation über den Einzelnen. Die Furcht vor sozialer Ausgrenzung ist heute vermutlich nicht geringer als die vor Haft und Kerker in früheren Zeiten.

Die Mittel zur Sicherung der Macht in verdeckten Totalitäten ähneln denen der offenen: Überwachung, Verbot, Denunziation. Die Denunziation gehört immer dann zum politischen Alltag, wenn ein Staat sich auf "Gesinnung" gründet. "Gesinnung" impliziert etwas Totales und Identitätsstiftendendes, sie ist im Unterschied zur "Meinung" stets Ausdruck eines absoluten Gemeinsamen, von dem bei Strafandrohung nicht abgewichen werden darf. Ein Staat, der sich auf "Gesinnung" gründet, fürchtet häufig einen inneren Feind, der ihn in seiner zumeist schwachen Existenz bedroht. Deshalb kann es vorkommen, daß ein Staat dazu übergeht, seine oft nur von einer Minderheit getragene Legitimität allein aus der Gegnerschaft zu diesem Feind zu rechtfertigen. Er definiert sich dann im wesentlichen nur noch über den Kampf gegen jenen Feind. Dagegen bedarf ein Staat, der sich von der Mehrheit des Volkes gestützt sieht, in der Regel keiner "Gesinnung" zur eigenen Stabilisierung.

In "Gesinnungsstaaten" kommt dem Denunzianten eine besondere Rolle zu: er hat die von oben abgesegnete Aufgabe, seine Umwelt "kritisch" zu überwachen und den inneren Feind durch Verrat erkennbar zu machen. So konnte man zu allen Zeiten über die Art und Weise, wie dem Denunziantentum, das auch ungerufen aufzutreten pflegt, von seiten der Regierenden begegnet wurde, viel über den sittlichen Grad eines Staates ablesen.

Natürlich ist sich der Denunziant seiner erbärmlichen Tat nicht bewußt, denn man versteht es, das Handeln des gemeinen Menschen mit positiven Attributen zu belegen, damit er so handelt, wie man es von ihm wünscht. Da verwundert es nicht, wenn dem Denunzianten sogar "Zivilcourage" dafür bescheinigt wird, daß er seine Nachbarn bespitzelt und damit dem potentiell Bösen in seinen Anfängen wehrt. Denn schließlich versteht sich jeder Denunziant als Vorkämpfer für das Gute und als staatlich beschirmter "Widerstandskämpfer" gegen das Böse.

Es gilt jedoch zwischen zwei Arten von Widerstand zu unterscheiden: dem "konformen Widerstand" und seinem nonkonformen Pendant. Ersterer läßt sich dadurch charakterisieren, daß seine Vertreter mit heldischem Eifer bemüht sind, den Zeitgeist in seiner Tendenz noch zu überholen, d.h. sich selbst zum glühendsten Verfechter jener Tendenz aufzuspielen, die ohnehin schon die Zeit beherrscht. Diese Helden stehen auf der Siegerseite, haben nichts zu befürchten und können sich dennoch mit dem Charme des "Querdenkers" und "Widerständlers" umgeben. "Konformen Widerstand" haben etwa die radikalen Antisemiten im Kaiserreich geleistet, die in einer ohnehin antisemitisch bestimmten Epoche die Regierung eines zu schwachen Vorgehens gegen das Judentum bezichtigten. Genauso wettern heute Menschen gleichen Schlages gegen diejenigen Kräfte, die es wagen, die großen Tendenzen der Zeit anzuzweifeln. So verstehen sich die modernen "konformen Widerständler" wie einst die Antisemiten als wachsame Kämpfer gegen einen imaginären Feind, der nicht zuletzt dazu dient, sich selbst über jene beschworene Gefahr eine Identität und das Gefühl der eigenen Wichtigkeit zu verleihen.

"Nonkonformen Widerstand" leisten hingegen diejenigen, die gegen tatsächlich bestehende, das heißt die Tendenz der Epoche machtvoll verkörpernde Verhältnisse aufbegehren und sich damit als wahrhaft "unzeitgemäße" Menschen zu erkennen geben. Die "konformen Widerständler" fürchten nichts mehr als einen Umschwung, der bewirkt, daß sie nicht mehr zur zeitgeistbestimmenden Masse gehören. Vielen von ihnen dürfte es allerdings leicht gelingen, sich auch den neuen Verhältnissen bald anzuschließen und auch dann wieder schnell in die vorderste Riege der neuen "konformen Widerständler" vorzustoßen.

Ein weiteres Merkmal sowohl der offenen als auch der verdeckten Totalität ist der Mythos. Er dient hier wie dort zur Festigung der eigenen Legitimität. Zu diesem Zweck wird der Mythos permanent am Leben erhalten, er wird in den Medien unermüdlich wiederholt, von Generation zu Generation weitergetragen, bis er "Wirklichkeit" geworden ist. In einer solchen Tradition stehen auch die meisten offenen Totalitäten, während es Kennzeichen verdeckter Totalität sein kann, dem Mythos eine genau gegenteilige Funktion zukommen zu lassen: hier soll der Mythos gerade verhindern, daß seine Erben groß und selbstbewußt werden, da wir es hier mit einem destruktiven Mythos zu tun haben, der aus der Überwindung eines positiven, offen totalitären Mythos entstand, der aber zwecks Festigung der neuen Identität ebenso zur "Gesinnung" erklärt werden mußte wie ehemals der alte. Ein Staat, der auf einem hemmenden Mythos fußt, betreibt in logischer Konsequenz langfristig die eigene Auflösung bzw. das Aufgehen in ein anderes, größeres Ganzes unter Preisgabe des Eigenen.

Beide Formen der Totalität bedienen sich zur Rechtfertigung ihrer Existenz der Moral. Moral aber ist, wie wir spätestens seit Nietzsche wissen, kein allgemeingültiger Wert, sondern immer auch Instrument derjenigen, die sie zu politisieren und in ihre Dienste zu stellen verstehen. Wer moralisch argumentiert, will auf der Seite der "Guten" stehen. Deshalb versucht jede Herrschaft, ihr Wollen und Tun auch moralisch zu begründen. Daß "Moral" aber nie absolut ist, sondern stets nur insoweit als Wert angenommen wird, wie sie sich für die eigenen Interessen als tauglich erweist, wird dadurch deutlich, daß in fast allen moralischen Fragen mit zweierlei Maß gemessen wird.

Daß ein Staat – gleich welcher Art – diejenigen Kräfte bekämpft, die ihn verändern oder gar überwinden wollen, gehört zu den verständlichen Maßnahmen seines Selbsterhaltungswillens. Für einen demokratischen Staat kann dies jedoch nur dann in vollem Umfang gelten, wenn die Veränderung von einer kleinen Gruppe mit dem Mittel des Terrors herbeigeführt werden soll. In der modernen Demokratie muß auf evolutionärem Wege auch grundlegende Veränderung möglich sein. Wird jedoch jede Veränderung des Status quo über den Gebrauch der angeführten Mittel verhindert, dann ist sie ihrer Verfallsform nicht mehr fern. In sich erstarrte Systeme, die sich in wesentlichen Fragen über den Willen einer mündigen Bevölkerung hinwegsetzen, haben in der Geschichte über kurz oder lang immer zu ihrer eigenen Überwindung geführt.


 
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