© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    17/98 17. April 1998

 
 
Memelland: Zwiespältige Erinnerungen an 75 Jahre Zugehörigkeit zum litauischen Staat
Kleinlitauer fühlen sich heimatlos
von Bodo Bost

Für das historisch Ostpreußen zugehörige Memelland ist 1998 ein besonderes Jahr. Im Januar fanden in der Hafenstadt Memel (lit. Klaipeda) große Gedenkveranstaltungen mit militärischem Pomp statt. Anlaß war die "75jährige Zugehörigkeit des Memellandes zur Republik Litauen". Eine Kranzniederlegung am Ehrenmal für die Gefallenen des Handstreichs vom 10. bis 16. Januar 1923 und eine Festveranstaltung im Theater unter Teilnahme von Parlamentspräsident Landsbergis bildeten am 15. Januar den Höhepunkt.

Der Memeler Bürgermeister Gentvilas äußerte in seiner Jubiläums-Ansprache die Hoffnung, daß der Vereinigung mit Litauen vor 75 Jahren bald die Vereinigung mit der Europäischen Union folgen werde.

Die Stadt Memel wurde 1252 von deutschen Kaufleuten und dem Schwertbrüderorden aus Riga als erste deutsche Stadt in Ostpreußen gegründet. Seit 1422, als im Frieden von Melnosee die Grenze zwischen dem deutsch-preußischen Ordensstaat und dem polnisch-litauischen Großreich festgelegt worden war, blieb hier die deutsche Ostgrenze als eine der wenigen Grenzen des Reiches für sehr lange Zeit unverändert. Sie verlief etwa 20 Kilometer östlich der Stadt und des Flusses Memel.

 

Echte Autonomie hat es im Memelgebiet nie gegeben

Erst der im 19. Jahrhundert aufkommende Nationalismus führte dazu, daß die Zugehörigkeit der Stadt zu Preußen in Frage gestellt wurde. Die siegreiche Entente nahm die Existenz einer erheblichen litauischsprachigen Minderheit, der sogenannten "Kleinlitauer", zum Anlaß, das Gebiet im Friedensvertrag von Versailles 1919 vom Deutschen Reich abzutrennen. Da es damals jedoch noch keinen international anerkannten litauischen Staat gab, stellte man das Gebiet bis auf weiteres unter französische "Schutzmacht". Im Januar 1923 nutzten die kleinlitauischen Nationalisten um Erdmann Simonaitis die Schwäche Deutschlands, um im Memelgebiet eine Volkserhebung zu inszenieren. Als Freischärler verkleidete Angehörige der litauischen Armee überschritten die Grenze und hatten bis zum 16. Januar die französischen Besatzungstruppen und die memelländische Polizei in ihrer Gewalt.

Die Alliierten erkannten den Willkürakt bereits ein Jahr später in der Memelkonvention an, erreichten jedoch einen Autonomiestatus für die Region innerhalb des litauischen Staates. Da aber in den folgenden Jahren bei den Wahlen zum Memelparlament trotz einer starken Zuwanderung aus Rest-Litauen stets mehr als 80 Prozent der Wähler für die deutschen Parteien votierten, wurden seit 1926 per Kriegsrecht die Autonomie-Befugnisse der Regierung faktisch außer Kraft gesetzt. Eine echte Autonomie hatte es nie gegeben; wenigstens blieb das Memelland während dieser Periode offiziell zweisprachig.

Aus Enttäuschung über die nicht eingehaltenen Abmachungen und vor allem über den wirtschaftlichen Niedergang als Folge der Blockade des Memeler Hafens durch die litauische Politik im Wilna-Konflikt mit Polen verweigerten die meisten Kleinlitauer ihrem Mutterland mehr und mehr die Gefolgschaft und erlaubten schließlich Hitler, im März 1939 unter massivem diplomatischem Druck die Rückgabe an Deutschland zu erzwingen. Vor diesem Hintergrund ist es auch nachzuvollziehen, warum im Januar ’45 – angesichts der Besetzung des Memelgebietes durch die Sowjets – die meisten Kleinlitauer zusammen mit ihren deutschen Landsleuten, mit denen sie den lutherischen Glauben und eine 400jährige gemeinsame Geschichte teilten, nach Rest-Deutschland flüchteten.

Danach wurde die Stadt Memel von den neuen kommunistischen Machthabern mit Menschen aus allen Teilen der UdSSR neu besiedelt und zu einer Industriestadt mit 200.000 Einwohnern ausgebaut. Mit mehr als 40 Prozent weist Klaipeda unter allen litauischen Städten heute den höchsten Anteil von Russischsprachigen auf. Als einzige Region im gesamten Baltikum ist im Gebiet Memel die russische Sprache auch als Behördensprache bis jetzt offiziell anerkannt. Die Kleinlitauer bilden nur noch eine kleine Minderheit. Längst sind die zugezogenen katholischen "Großlitauer" in der Mehrheit.

Daß sich die alteingesessenen Bewohner in ihrer eigenen Heimat nicht richtig wohl fühlen, deutet beispielsweise ein Leserbrief an, der anläßlich der 75-Jahr-Feiern von der Lokalzeitung Klaipeda veröffentlicht wurde. Dalja Kiseliunaite von der Vereinigung "Kleinlitauen" beschwert sich darin über die Dominanz der katholischen Kirche in allen Bereichen des öffentlichen Lebens in Stadt und Gebiet Klaipeda seit der Gewinnung der Unabhängikeit vor sieben Jahren, obwohl die alteingesessenen Kleinlitauer allesamt evangelischen Glaubens sind. In einigen Ortschaften um Prökuls, in denen der kleinlitauische Bevölkerungsanteil besonders hoch ist, sollten vor einigen Jahren sogar die zweisprachigen evangelischen Friedhöfe (die selbst die atheistische Sowjetzeit überdauert hatten) neuen katholischen Friedhöfen weichen.

 

Eine Autonomie genießt das Memelgebiet nicht

Kiseliunaite bemängelt außerdem das Desinteresse der heutigen Bewohner von Memel und ihrer politischen Entscheidungsträger an der langen Geschichte ihrer Stadt, die außer von den evangelischen Deutschen und Kleinlitauern auch von Juden maßgeblich geprägt worden war. Hinzu kam das kleine Fischervolk der Kuren mit seiner eigenen baltischen Sprache, das bis 1945 die Dörfer um das Kurische Haff bevölkerte, jedoch seit der Vertreibung als ausgestorben gilt.

Das seit 1991 wieder unabhängige Litauen ist ein Zentralstaat; eine Autonomie genießt das Memelgebiet nicht einmal mehr auf dem Papier. Allerdings hat die Regierung in Wilna Minderheitenrechte anerkannt, so daß sich heute wieder etwa 6.000 Memelländer als Deutschstämmige bekennen und organisieren können. Für die Kinder dieser Volksgruppe hat das Kulturministerium in Memel sogar eine Internatsschule mit verstärktem Deutschunterricht eingerichtet, an der bald auch das erste deutsche Gymnasium in Litauen entstehen soll. Das mit Mitteln der Bundesrepublik Deutschland verwirklichte "Simon-Dach-Begegnungs- und Kulturzentrum" in Memel sowie das "Haus Heide" in Heydekrug (Silute) koordinieren die Aktivitäten der über 2.000 Mitglieder der verschiedenen Vereine der Deutschen.

 

Kaum Spannungen zwischen den Volksgruppen

Die vielleicht noch 10.000 Kleinlitauer gelten dagegen nicht als Minderheit, deren spezifische Kultur und deren stark ans Deutsche angelehnter litauischer Dialekt offiziell als schutzbedürftig angesehen werden. So ist es zu erklären, daß mehr und mehr Kleinlitauer wie Frau Kiseliunaite von ihrem Mutterland Litauen nach dessen zweiter Unabhängigkeit auch ein zweites Mal enttäuscht sind. Da heute zumindest von bundesdeutscher Seite die Zugehörigkeit des Memelgebietes zu Litauen nicht mehr in Frage gestellt wird, bleibt in den Augen so mancher Kleinlitauer nur die Auswanderung nach Deutschland, wohin die große Mehrheit dieser Grenzlandvolksgruppe, allen voran ihr politischer Führer Erdmann Simonaites, schon gegen Ende des Krieges geflüchtet ist. Die sterblichen Überreste von Simonaites, der 1969 im einstmals so verschmähten Deutschland verstarb, wurden zwar 1992 auf Initiative des Vereins der Kleinlitauer wieder in seinen Geburtsort Kibarten ins Memelland überführt, dennoch haben seine eigenen Nachkommen, eine Enkelin und ein Urenkel, die in Memel zurückgeblieben waren, bereits ihre Aussiedlungsanträge nach Deutschland gestellt und bekennen sich offen als Deutsche.

Weil zu der kleinlitauischen Kultur auch das deutsch-preußische Erbe gehört, können die Kleinlitauer sowohl als deutsche Volkszugehörige nach dem Vertriebenengesetz oder als ehemalige deutsche Staatsangehörige, die sie bis 1945 ja waren, in der Bundesrepublik Deutschland Aufnahme finden.

Dennoch ist derzeit im Memelland kein Massenexodus gen Westen wie in anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion zu beobachten. Bereits in den Jahren 1959 bis 1962 konnten über 10.000 Memelländer mit deutscher Staatsangehörigkeit aufgrund einer Sonderregelung zwischen Adenauer und Chruschtschow ausreisen. Es gibt allerdings eine große Anzahl von Memelländern und Kleinlitauern, die sich heute wieder deutsche Pässe besorgen, aber ihren Wohnsitz nicht ständig nach Deutschland verlegen möchten.

Bei diesen Überlegungen spielen die räumliche Nähe und die mittlerweile wieder sehr engen wirtschaftlichen und sozialen Kontakte nach Deutschland eine positive Rolle. Allgemein sind die deutschen Sprachkenntnisse der Kleinlitauer, die vorwiegend aus den ländlichen Regionen stammen und in einigen Dörfern bei Heydekrug und Pogegen noch die Mehrheit bilden, oft besser als die der Deutschen, die seit jeher eher in den Städten des Memellandes lebten. Diese guten Kenntnisse sind nicht zuletzt eine Folge der Tatsache, daß es in den Jahren 1939 bis 1945 im Memelland auf Weisung der NS-Behörden nur deutschsprachige Schulen und Kirchengemeinden gegeben hat

Exakte Volkstumsgrenzen, wie sie die Nationalitätenpolitiker von deutscher und litauischer Seite in der Vergangenheit oft vorgaukelten, hat es im Memelland, wo die große Mehrheit der Menschen früher zweisprachig war und der Begriff des "schwebenden Volkstums" seine Berechtigung hatte, nie gegeben. Anders als in Oberschlesien oder im Sudetenland der zwanziger Jahre blieben jedoch im Memelgebiet die Volkstumskämpfe immer gewaltfrei. Aus diesem Grunde bestehen hier auch heute gute und unbelastete Beziehungen zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Ein Beleg dafür ist die Tatsache, daß die "Arbeitsgemeinschaft der Memellandkreise", die Interessenvertretung der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Vertriebenen, das 50jährige Jubiläum ihres Verbandes im August 1998 in der Stadt Memel feiern werden.

Ohne das deutsche Hinterland, das früher direkt ans Memelland grenzte, heute allerdings mehr als 500 Kilometer entfernt ist, scheint die preußisch-litauische Mischkultur der Kleinlitauer zum Aussterben verurteilt. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß die Nachkommen der Kleinlitauer, die einstmals den Anspruch Litauens auf das Memelgebiet begründeten, ihre Heimat in der Republik Litauen auch nach 75 Jahren nicht gefunden zu haben scheinen.


 
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