© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Sachsen-Anhalt: Die Stadt Dessau und ein trostloser Wahlkampf
Viele fühlen sich abgezockt
von André Freudenberg

Rund 50 Jugendliche aus der autonomen Szene "belagerten" am vergangenen Montag gegen 12 Uhr den Bahnhofsvorplatz von Dessau. Sie sind der Einladung eines Bündnisses "Für solidarische Politik und gegen Ausgrenzung" gefolgt. Ausgerüstet mit DDR-Fahnen und Plakaten mit der Aufschrift "Kein Mensch ist illegal", heizt ein mäßig begabter Heißsporn den Anwesenden ein.

Einige Personen beobachteten das Geschehen von Ferne. Zu ihnen gehört der Eisenbahndirektor der Dessau-Wörlitzer Eisenbahn. Gegen die Demonstration habe er grundsätzlich nichts einzuwenden, die Jugendlichen hätten sich seiner Meinung nach nur "etwas hemdsärmelig ausgedrückt". Anders sehen das einige arbeitslose junge Männer. Solche Randale fänden sie "scheiße". Mit ihrer Situation sind sie total unzufrieden. Obwohl sie erst Mitte dreißig sind, erblicken sie als Handwerker für sich hier keine Chance, es sei denn, sie würden "nach drüben gehen".

Inzwischen haben sich die Jugendlichen in Richtung der Mensa der Fachhochschule am Bauhaus begeben, wo Bundesinnenminister Manfred Kanther (CDU) im Wahlkampf unterwegs ist. Drinnen sind etwa 100 Personen versammelt, Autonome und ihre Hunde müssen draußen blieiben. Wer hereinwill, muß sich gründlich "filzen" lassen, die Angst vor Eskalation sitzt den Veranstaltern kräftig im Nacken. Einige der jungen Leute, die dennoch den Weg zu Kanther "geschafft" haben, werfen ihm vor, daß er sich keine Zeit für jungen Leute nehmen würde. Der Innenminister versucht in väterlicher Manier und mit Verständnis für die Ängste und Nöte des "kleinen Mannes" Stimmenfang zu betreiben. Dafür wird er mit Beifall belohnt, bevor er in seinem Dienst-Mercedes zur nächsten Veranstaltung braust.

Dessau ist die drittgrößte Stadt in Sachsen-Anhalt. Viele renovierte Fassaden, viele Grünflächen, viele Banken prägen das Bild der Innenstadt. Es fahren Straßenbahnen, die Modelle stammen noch aus DDR-Zeiten. Doch der Schein trügt: "Dessau ist tot als Arbeitsstadt", meinen ein paar Rentner, die gerade im Eiscafé Bösener den Nachmittag verbringen. "Arbeiten möchte ich nicht mehr", sagt einer der älteren Herren. "Hier kommt keiner zum Investieren!" Ergebnis: Die Stadt hat mit einer anhaltenden Fluktuationswelle zu kämpfen. Vor der Wende lebten hier noch mehr als 100.000 Menschen. Abgewandert sind vor allem junge Menschen, meist in Richtung westliche Bundesländer.

Das einzige, was hier funktioniere, seien die großen Einkaufszentren. Das größte von ihnen, das Rathaus-Center, befindet sich direkt in der Innenstadt, gegenüber dem Rathaus, wo man sich im Ratskeller ein saftiges Black Angus Rumpsteak mit Zwiebeln, grünen Bohnen und Pommes für ebenso saftige 21,80 DM bestellen kann.

Dessau wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zu 90 Prozent zerstört. Zu DDR-Zeiten waren hier hauptsächlich der Maschinen- und Fahrzeugbau von Bedeutung. Nach der Wende wurden allerdings kaum neue Investitionen getätigt, die Arbeitslosenquote liegt bei über zwanzig Prozent. Trotz der im vergangenen Jahr durchgeführten Privatisierungen und Liquidierungen treuhänderisch verwalteter Betriebe zeichnet sich ein zaghafter Weg der Stabilisierung der bestehenden Wirtschaftsstruktur ab.

Der 58jährige Wolfgang Ehrenberg, zur Zeit arbeitslos, war zu DDR-Zeiten Abteilungsleiter einer ehemaligen PHG, die nach der Wende zurückprivatisiert wurde. Der neue Betriebsleiter wollte die Firma an einen Stahlbaubetrieb verkaufen. Doch dann wurde ein neuer Geschäftsführer gewählt, Ehrenberg wurde gleichberechtigter Gesellschafter. Aus seiner Sicht habe man Ehrenberg "zielgerichtet abzocken" wollen.

Das Vertrauen in Parteien scheinen die meisten in Dessau verloren zu haben; nur wenige wollen sich festlegen. Nicht nur von den Firmen, auch von den Parteien fühlen sich die Wähler im Stich gelassen und "abgezockt". Große Einkaufszentren, Banken, topsanierte Innenstädte einerseits, hohe Arbeitslosigkeit, Jugendliche, die keine Zukunft sehen und zu Gewalttätigkeit neigen, auf der anderen Seite, prägen das Bild vieler mitteldeutscher Städte. Insofern ist Dessau keine Ausnahme, sondern eher "typisch".


 
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