© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Pankraz, M. Kohlhaas und die Pariser Komitees der Wachsamkeit

Neueste Nachricht aus den Katakomben der BRD: Letztes Jahr wurden hier sage und schreibe 7.949 Strafverfahren wegen "Volksverhetzung" abgewickelt (Verfahren wegen politisch motivierter Gewalttaten: 781). Tausende von Jahren Gefängnis wurden verhängt, tausende bürgerlicher Existenzen vernichtet. Zur Zeit sitzen wegen sogenannter "Propagandadelikte" in Deutschland mehr Menschen hinter Gittern als jemals in den letzten Jahren der DDR.

Erkundigt man sich, was denn die vielen verurteilten Menschen ausgefressen haben, so erfährt man: Sie haben irgendwas "geleugnet", irgendwas "verharmlost", irgendwelche Zahlen "öffentlich nicht geglaubt", irgendwelche Vorgänge "nicht als historische Hauptsache, sondern nur als historisches Detail" bezeichnet, irgendwelche "verbotenen Lieder" gesungen, irgendwelche Symbole "vorgezeigt".

Und noch ist kein Ende abzusehen. Hunderte von Beobachtungsinstanzen sind installiert, um immer neue "Volksverhetzer" aufzuspüren und den Behörden zu melden. Hochbezahlte Universitätsprofessoren geben dicke Sammelbände mit ellenlangen Proskriptionslisten heraus, in denen andere, "verdächtige", Professoren namentlich aufgeführt werden, damit sie gegebenenfalls sofort einer justiziellen Sonderbehandlung zugeführt werden können.

Eine neue Strafart wurde eingeführt: das "Beobachtetwerden". Während in anderen Ländern die politischen Geheimdienste ihre Dossiers in tiefer Verschwiegenheit anfertigen, während die Stasi der verflossenen DDR ihre Berichteschreiber selbst noch im innerbehördlichen Verkehr mit Tarnnamen ausstattete, ist das Berichteschreiben in der BRD inzwischen in vollster Öffentlichkeit als Drohinstrument aufgebaut, mit weitreichenden Folgen.

Wer sich auffällig gemacht hat, über den verlautbart der Verfassungsschutz: "Der steht unter Beobachtung, über den werden Berichte geschrieben." Damit befindet sich der Betreffende bereits mit einem Bein im Gefängnis. Er ist zwar noch nicht verurteilt, ja, noch nicht einmal angeklagt, doch seine bürgerliche Reputation ist schon angeknackst, seine soziale Bewegungsfähigkeit eingeschränkt. Die Medien dürfen ihn ungestört anpinkeln, und bald nimmt kein anständiger Bürger (oder Hund) auch nur noch ein Stück Brot von ihm.

Ein ungeheurer Beobachtungs-und Denunziationseifer ist allenthalben entfacht, speziell das "kulturelle Leben" setzt sich streckenweise nur noch aus Denunziationsaffären zusammen. Der Eifer dort wird lediglich gebremst durch ein zweites, konkurrierendes Diffamierungs- und Bestrafungsprinzip: das Totschweigen.

Denunzieren oder Totschweigen? Das ist die Frage, die sich den Leuten an den "kulturellen Schalthebeln", all den Rundfunk- und Fernsehredakteuren, Magazinleitern und Auflagenverwaltern, tagtäglich stellt. Ein harter Job! Man kann dabei ziemlich böse auf die Nase fallen, es kommt darauf an, dieselbe immer scharf im Wind zu haben und früh herauszuwittern, in welcher Verfassung sich die zu denunzierenden Personen befinden. Wer liegt schon am Boden, wer kann sich eventuell noch wehren?

Angesichts der Exzesse ist es kein Wunder, daß sich auf seiten der Beobachteten und Denunzierten, Totgeschwiegenen oder im Knast Verschwundenen Resignation und Duckmäusertum ausbreiten. Die von Elisabeth Noelle-Neumann beschriebene "Schweigespirale" schraubt sich in ungeahnte Höhen. Doch auch das Gegenteil ist zu registrieren, etwas, das Pankraz als "Michael-Kohlhaas-Syndrom" bezeichnen möchte.

Der einmal unter Beobachtung Geratene, Denunzierte und Verurteilte verhärtet sich, leugnet und verharmlost nun noch lauter als vorher, stellt seinen Unglauben frech und breitmäulig nur Schau, verkleinert das "Detail" wider besseres Wissen zur kaum noch wahrnehmbaren Bagatelle. Das kann soweit gehen wie bei jenem ehemaligen Tübinger Studentenfunktionär, den sie wegen Verhetzung zu sechzehn Monaten verknackt hatten, nach der Hälfte der "verbüßten" Zeit aber laufen lassen wollten, und der sich weigerte, das Gefängnis zu verlassen, solange nicht dieser und jener Paragraph geändert, nicht dieser und jener Mithäftling ebenfalls freigelassen würde.

So etwas bringt natürlich nichts ein, ruiniert nur das eigene Leben und macht unempfindlich gegen feinere, lustigere und auf Dauer auch wirkungsvollere Formen des Sichquerlegens. Die ins Absurde sich steigernde Denunziations- und Kriminalisierungswut bietet ja eine Menge Möglichkeiten, den ganzen Apparat von innen heraus in die angemessene Beleuchtung zu bringen, ihn mit seinen eigenen Kotbrocken zu füttern wie einen Schneehasen im arktischen Winter.

In Frankreich bahnt sich eine solche Aktion gerade an. Dort hat die Denunziations- und Kriminalisierungswut (unter deutschem Einfluß) leider ebenfalls schon groteske Dimensionen erreicht, und jüngsthin rief die Kulturministerin Trautmann sogar – in Analogie zu den Wohlfahrtsausschüssen von 1793 – zur Bildung von "Wachsamkeitskomitees" überall im Lande auf, bei denen alle Leugnungen und Hetzereien gemeldet werden sollen.

Was tut die "Anti-Intellektuaille", zum Beispiel Baudrillard? Sie überschüttet die Komitees seitdem derart mit albernen, dabei gut ausgewählten und hübsch verzierten Tatarenmeldungen von der aktuellen Polit- und Geistesfront, daß den Wohlfahrtsausschüßlern buchstäblich Hören und Sehen vergeht. Die Treppe der Conciergerie, die Rampe, wo die nächsten Guillotineopfer ausgerufen werden, zerbirst förmlich unter Gelächter.

Pankraz will mit solchem Hinweis beileibe nicht sagen, daß sich jeder ernste Spuk hierzulande leichthin totlachen ließe; "Lächerlichkeit tötet" ist ein exklusiv französisches Sprichwort. Aber ein bißchen lernen darf man von den Franzosen allemal.


 
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