© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    16/98 10. April 1998

 
 
Nigeria: Das Land der Superlative als abschreckendes Beispiel der afrikanischen Misere
Reichtümer leichtfertig verspielt
Frank Jankowski

Nigeria ist ein unpopulärer Staat. Das war schon immer so, denn es gab und gibt dort weder eine Apartheit noch eine Serengeti, weder Kriege nach außen noch Fremdenverkehr nach innen. Und wer weiß schon, daß die 300 Kilometer über dem Äquator liegende "Federal Republic" sich gewissermaßen als Schwitzfleck Afrikas auf unserem Globus abzeichnet? Geläufiger dürfte da schon der Begriff "Biafra" sein und das nach dieser Region benannte Kind mit einem luftballongroßen Bauch-Ödem – dem Symbol für das Elend der Dritten Welt schlechthin.

Dabei ist Nigeria ein Land der Superlative. Knapp ein Viertel der gesamten afrikanischen Bevölkerung lebt dort: 110 Millionen Menschen. Und das auf einer Fläche, die zwar weniger als ein Dreißigstel des Kontinents ausmacht, dafür jedoch dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland. Daraus ergibt sich eine Bevölkerungsdichte von 100 Menschen pro Quadratkilometer, was einem europäischen Mittelwert entspricht. Von sämtlichen Staaten Afrikas ist Nigeria derjenige mit den meisten Umstürzen und Regierungswechseln. Als einziger afrikanischer Staat taucht es auf der Liste der zwanzig bedeutendsten Erdölländer auf – und zwar an elfter Stelle. Das Öl dominiert heute nach wie vor zu über 95% den Außenhandel des Landes, wobei die USA mit 40% weitaus größter Abnehmer sind. Allein 1996 flossen dank des "Schwarzen Goldes" 10,6 Milliarden Dollar in die Kassen.

In der Hitparade der vierzig korruptesten Nationen der Welt rangiert Nigeria auf Platz zwei, gleich hinter Rußland. Hunderte von Geschäftsleuten, die mit sagenhaften Reibach-Versprechungen dorthin gelockt wurden, können ein Lied davon singen: Bakschischbeladen reisen sie aus aller Herren Länder an den Golf von Guinea, um den schnellen Dollar zu machen, und sind dann heilfroh, wenn sie – abgezockt bis aufs Unterhemd – wenigstens lebendig wieder heimkommen.

Doch Nigeria ist auch ein Land der Dichter und Denker. Als erster Afrikaner wurde Wole Soyinka 1986 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, und 1994 erhielt der prominenteste Regimekritiker, Ken Saro-Wiwa, den mit 375.000 Mark dotierten Alternativen Nobelpreis ("Right Livelihood Award"). Daß Saro-Wiwa gleich darauf von der Militärjunta gehängt und Soyinka zum Tode verurteilt wurde, sind zwei weitere, zugleich die traurigsten, Weltrekorde dieses westafrikanischen Staates.

Nach Rußland Vize- Weltmeister der Korruption

"Wie soll ich ein Land regieren, in dem es über 350 Käsesorten gibt?" rief Charles de Gaulle einst resigniert. Auf Nigeria bezogen ließe sich eine weit prekärere Frage formulieren: Wie soll man ein Land regieren, in dem 350 Volksgruppen beheimatet sind? Ein Dilemma, an dem die Engländer nicht ganz unschuldig sind, da sie im 16. Jahrhundert anfingen, sich all diejenigen Gebiete für ihren Menschen- und Güterhandel zu erschließen, die 1917 unter der Bezeichnung "Nigeria" zusammengefaßt wurden und übrigens um ein Haar "Negretia" geheißen hätten, wäre die Journalistin Flora Shaw nicht auf die Idee gekommen, das Gebiet nach dem imposanten, 4.400 Kilometer langen Strom zu benennen, der alljährlich rund 200 Milliarden Kubikmeter Süßwasser in den Atlantik schüttet.

Die vier größten ethnischen Gruppen dieser Region – Haussa, Yoruba, Ibo und Fulbe – liefern sich seit der Unabhängigkeitserklärung vom 1. Oktober 1960 erbitterte Machtkämpfe. Drei Jahre nach Erlangung der Souveränität entdeckten Erdöl-Explorateure in den Mangrovensümpfen des Nigerdeltas riesige Vorkommen eines sehr hochwertigen Erdöls, das sich mit der Qualität des europäischen "Nordsee-Brent" die Waage hält. Binnen weniger Monate hatte dieser Fund ein krasses Nord-Süd-Gefälle zur Folge. Die schwelenden Animositäten zwischen den Volksgruppen entzündeten sich daran und flammten im Januar 1966 zum ersten Putsch auf. Die christlichen Ibos machten sich bei den muslimischen Haussas, Yorubas und Fulbe von Anfang an unbeliebt – wohl nicht zuletzt deshalb, weil sie als Händler, Juristen und Manager bald fast sämtliche Schlüsselpositionen besetzt hatten. Plötzlich kochte das böse Blut auf, schrie nach Aderlaß und mündete in ein Pogrom. Überall im Lande wurden Tausende von Ibos regelrecht abgeschlachtet. Zu Hundertausenden flüchteten die Verfolgten damals in den ölreichen Süden ihrer Heimat und riefen am 30. Mai 1967 ihre "Freie Republik Biafra" aus. Eine Abspaltung Ibo-Biafras wollten die anderen Stämme wegen des Ölreichtums der Region jedoch keineswegs dulden. Und so brach zwei Monate später ein furchtbarer Bürgerkrieg aus, der drei Jahre lang das Land verwüstete und mindestens zwanzigmal mehr Menschenleben forderte als die Zahl sämtlicher im Vietnamkrieg gefallener US-Amerikaner: Die Quellen schwanken zwischen ein und zwei Millionen.

Auf den einsamen Überlandpisten, die sich schnurgerade durch Nigerias Urwälder ziehen, zeugen noch heute unzählige Bombenkrater von jenem Krieg; mitunter sind sie so groß wie die türkisfarbenen Swimmingpools, die am Golf von Guinea auf keinem Millionärsgrundstück fehlen. Vielen, aus Angst vor Überfällen zum Rasen gezwungen, werden sie zum Verhängnis, und nicht immer sind ihre Leichen mit alten Zeitungen oder Blechteilen bedeckt. Nigerias Straßenkriminalität ist eine der erschreckendsten der Welt.

Doch zurück zum Öl: Nigeria besaß 1970 weit über drei Millarden Tonnen Reserven. Ausgegangen von einer jährlichen Fördermenge von 100 Millionen Tonnen (so der Höchststand 1993) war dies genug bis ins nächste Jahrtausend. Selbst bei einem pessimistisch veranschlagten Absatzpreis von 10 Dollars pro Barrel flossen jedes Jahr mindestens sechseinhalb Milliarden Petrodollars ins Land. Ein solch beträchtlicher Devisenzufluß sollte wohl ausreichen, möchte man meinen, um eine landwirtschaftlich so überaus potente Volkswirtschaft langsam zur höchsten Blüte zu treiben, zumal die Absatzpreise für Rohöl bis in die 80er Jahre hinein angestiegen waren, ehe ein steter Verfall der Preise folgte. – Doch weit gefehlt!

Die 70er Jahre standen im Zeichen eines so immensen Booms, daß Nigerias neureiche Politiker vor lauter Geldscheffelei alle Voraussicht vergaßen. Sie verjubelten ihre Petrodollars wie einen Lottogewinn. Wir haben ausgesorgt, dachte man, wertete stolz den Naira auf und konnte bald behaupten, nach Kuwait das teuerste Land der Erde zu sein. Der Handel blühte, man nahm verschwenderisch Kredite auf, und binnen weniger Jahre sprossen im Süden bombastische Industrieanlagen (Sägewerke, Zementfabriken, Kfz-Montagewerke) aus dem Boden.

Alles was Beine hatte strömte in den Süden und in die Städte; in Lagos nahm die Bevölkerung derart sprunghaft zu, daß man, um die Verslumung der Küstenmetropole getrost ignorieren zu können, schon 1975 mit dem Bau einer neuen Kapitale liebäugelte. Wenig später wurde mit der Errichtung der Hauptstadt begonnen, die in der Mitte des Landes als Drehweiche zwischen den Religionen fungieren sollte, mit einer geplanten Fläche, auf der man Berlin bequem viermal hätte unterbringen können. Aus der ganzen Welt wurden die renommiertesten Baufirmen für das afrikanische Metropolis zusammengetrommelt, das glorreiche Symbol des Anschlusses an die Erste Welt: Abudja.

Nigerias Größenwahn hat einen Namen: Abudja

Doch die Weltwirtschaftskrise und die anschließende Ölschwemme machten den Bauherren einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Die Großabnehmer warteten mit radikalen Energiesparmaßnahmen auf, Brasilien steckte 7,5 Milliarden Dollars in die Methanolgewinnung aus Zuckerrohr und der Exxon-Konzern rund 3,5 Milliarden in den Abbau des Colorado-Ölschiefers, in dem Geologen 272 Milliarden Tonnen Öl vermuteten – mithin das Dreifache der damals bekannten Weltvorräte. Die Preise fielen ins Bodenlose, und die Ölscheichs am Niger sahen sich außerstande, ihre Schuldenlasten zu tragen, geschweige denn, diejenigen Verbindlichkeiten weiterhin zu bedienen, die tagtäglich durch den Bau der größenwahnsinnigen Retortenstadt anfielen.

Jede Firma, die noch etwas zu verlieren hatte, ließ alles stehen und liegen und machte sich schleunigst davon. In Abudja leben heute genauso viele Menschen wie in Essen. Lagos dagegen, die alte Hauptstadt, wird nach UNO-Schätzungen bald mit 25 Millionen Einwohnern der größte Slum der Erde sein.

Über die massenweise Einfuhr von japanischen Walkmen, US-Geschirrspülmaschinen und europäischen Luxuskarossen hatte man die einst so fruchtbare und so potente Landwirtschaft vergessen. Galten Agrarprodukte wie Baumwolle, Erdnüsse, Kakao, Kautschuk, Palmprodukte und Holz bis Mitte der 60er Jahre noch als Exportschlager, so mußte der wachsende Bedarf ab Ende der 70er zunehmend durch Importe gedeckt werden, denn die eigenen Felder lagen brach.

Hinzu kam, daß Patronage und Protektionismus ihre Metastasen durch den staatlichen Organismus getrieben hatten. Die unmittelbaren Folgen dieser törichten Politik waren Ämterhäufung, Korruption und infantiles Mißmanagement. Die mittelbaren: soziale Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Armut. Diejenigen, die als Wasserträger oder Autoscheibenputzer bislang einigermaßen über die Runden gekommen waren, konnten jetzt nicht einmal mehr ihre tägliche Yam- oder Garriration finanzieren, denn die Nahrungsmittelpreise schossen durch die Notwendigkeit des Imports in astronomische Höhen. – Alles in allem der ideale Nährboden für Staatsstreiche.

1985 putschte sich der Fulbe Ibrahim Babangida an die Spitze. Er gründete mit Hilfe des israelischen Mossad den SSS, der den Vergleich mit dem stalinistischen Tscheka nicht zu scheuen braucht. Gegenüber seinem Nachfolger war er jedoch ein Waisenknabe: 1993 riß Sani Abacha die Macht an sich und biß sich wie ein Pitbull in ihr fest. Moshood Abiola, der rechtmäßige Wahlsieger vom Vorjahr, verschwand 1994 im Gefängnis.

Kurz vor der Jahreswende 97/98 schnitt Abacha sich zweimal ins eigene Fleisch: Der frühere nigerianische Vizepräsident Shehu Musa Yar’Adua – ein Stammesgenosse des Diktators, was gerade in Nigeria viel bedeutet – kam auf mysteriöse Weise im Kerker ums Leben. Dann ließ er seinen eigenen Stellvertreter, General Oladipo Diya, verhaften. Spätestens jetzt wußten es auch Abachas Freunde: Keiner ist vor der Willkür dieses Wahnsinnigen sicher.

Im Sommer soll in Nigeria eine demokratische Regierung gewählt werden. Doch wer’s glaubt, wird selig, denn selbst der Papst-Besuch (fast die Hälfte der 104 Millionen Nigerianer sind Christen) zwischen dem 21. und 23. März dürfte General Abacha kaum in einen reuigen Sünder und Vorkämpfer für Freiheitsrechte verwandelt haben.


 
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